Bis zur letzten Luge
Er hat ein Herz aus Stahl.“
„Wer näht denn solche Verkleidungen?“
„Das sind Kostüme. Die machen sie selbst, jeden einzelnen Nadelstich. Und jedes Jahr sehen sie anders aus.“
Die Indianer verschwanden hinter der nächsten Ecke, doch der Rhythmus war weiterhin zu hören. Musik drang durch viele geöffnete Fenster nach draußen, und vor einigen Häusern spielten Blaskapellen, die sich spontan formiert hatten, einzigartige Refrains. Phillip bog in eine Straße, die die Indianer nicht genommen hatten. Er wich rangelnden Kindern und schimpfenden Müttern aus. Vor jeder Tür tummelten sich ganze Menschentrauben, und auf jeder Veranda und jeder Einfahrt wurde gefeiert.
Das Gedränge wurde dichter und der Rhythmus stärker, je näher er der Claiborne Avenue kam. Es war noch früh, aber auch die Hitze hatte zugenommen. Er stand inmitten eines Menschenstroms, und zugleich war ihm bewusst, wie einsam er eigentlich war. Überall um ihn herum feierten die Leute miteinander. Maskierte begrüßten im Gewühl Freunde. Großmütter, Tanten und Onkel standen beisammen und trugen abwechselnd die Kinder, um sich die Last zu teilen. Phillip gehörte nicht zum bunten Treiben – und trotzdem war er mittendrin.
Er hatte Belinda gesucht, weil er geglaubt hatte, ihren Trost zu brauchen. Nun erkannte er, dass es sehr viel mehr als das war. Er brauchte sie. Die ganze Frau. Die Gefährtin. Die Geliebte. Er wollte die merkwürdige Ausgelassenheit dieses Tages mit ihr teilen, die ihn trotz seiner Traurigkeit warm umhüllte. Er wollte sie sicher an seiner Seite wissen, während sie gemeinsam in diese einzigartige Kultur eintauchten. Das Wort „einsam“ hatte für ihn nie eine besondere Bedeutung gehabt, doch das hatte sich nun geändert.
Auf der Claiborne Avenue wurde er von der Menge mitgerissen, während er versuchte, zu einem bewachsenen Trennstreifen zwischen den Fahrbahnen zu gelangen. Dort standen viele VirginiaEichen, und über Nacht waren dazwischen Decken ausgebreitet und Picknicktische aufgestellt worden. Transistorradios plärrten gegen das konstante Geschrei und Gelächter an, und abgenutzt aussehende Hörner und Saxofone verstärkten den Lärmpegel.
Allmählich kam es ihm wie eine dumme Idee vor, hierhergekommen zu sein. Tausende von Leuten verstopften die Straßen. Er hätte direkt an Belinda vorbeilaufen können, ohne sie überhaupt zu bemerken. Trotzdem drängelte er sich weiter hindurch und war froh darüber, als ein anderer Indianerstamm, in Gold und Grün gekleidet, um die Ecke bog. Er beobachtete, wie die Menschen auf die Indianer zuströmten.
Ein paar Männer, die als Skelette verkleidet waren, gingen beschwingt vorbei. Wenn ihnen Kinder entgegenkamen, klapperten sie mit Knochen. Eine alte Frau nahm ein weinendes Kind auf den Arm und drehte sein Gesichtchen von den Männern weg. Drei kleine Jungen schwangen Stöcke und folgten den Skeletten. Als die drei an ihm vorbeirannten, stolperte einer der Jungen über Phillips Fuß. Phillip half dem Kleinen auf, der seinen Freunden sofort wie der Blitz hinterherjagte.
„Was hast du mit Percy gemacht?“
Phillip drehte sich um und erblickte ein kleines Mädchen,das ihn anklagend anstarrte.
Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüften. „Ich hab gefragt, was du mit ihm gemacht hast!“
Das Kind kam ihm bekannt vor, aber es dauerte einen Moment, bis Phillip das Gesicht einordnen konnte. „Er ist über meinen Fuß gestolpert. Ich habe ihm bloß wieder auf die Beine geholfen. Du heißt doch Amy, oder? Ich bin Phillip, ein Freund von Belinda.“
Allmählich erhellte sich die Miene der Kleinen.
„Hallo, Amy.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Selbstsicher ergriff sie seine Hand und ließ sie dann los. „Amy, hast du Miss Belinda gesehen? Ich suche sie nämlich.“
Amy zuckte mit den Schultern. „Hab sie nicht gesehen.“
„Oh.“
„Sie wohnt jetzt dahinten.“ Amy deutete auf den übernächsten Häuserblock.
„Weißt du auch, in welchem Haus?“
Sie warf ihre geflochtenen Zöpfe zurück. „Klar weiß ich das.“
„Erzählst du mir, welches es ist?“, versuchte er es noch einmal.
„Das weiße da an der Ecke.“
„Danke. Vielleicht finde ich sie da.“
Amy verfolgte Percy, und Phillip verfolgte Belinda. Er zwängte sich zwischen Familien und Grüppchen von Freunden hindurch. Dabei störte er ein paar Leute, die Bälle warfen, und musste eine große Truppe von Männern umrunden, die Karten spielten. Ein Händler versuchte ihm Erdnüsse zu
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