Bis zur letzten Luge
„Es ist nur Regen.“
„ Mais non , mon ami , es ist auch Wind. Ein Sturm. Ein heftiger Sturm.“ Juan streckte die Arme aus. „Lichter am Himmel, heute Morgen. Ich habe diese Lichter gesehen. Ich weiß es.“ Donner grummelte in der Ferne. Er ließ die Hände sinken, als hätte der Donner seinen Standpunkt noch einmal untermalt.
„Was können wir tun?“
Juans Miene änderte sich nicht. Langsam schüttelte er den Kopf.
Raphael war alarmiert. Mit seinen sieben Jahren hatte er schon viele Stürme erlebt. Er wusste, was es hieß, nass zu sein und sich furchtbar zu fühlen, weil das Dach leckte. Doch er spürte, dass Juan noch etwas anderes, etwas Schlimmeres meinte. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein heftiger Sturm über die Chénière fegte. Es gelang ihm nicht.
„Der Wind wird sich euer Zuhause nehmen.“ Juan drehte sich zu seiner eigenen Hütte um. „Er wird sich auch meines nehmen und es in kleine Stücke reißen.“
Raphael dachte an die paar Habseligkeiten, die er besaß und die er nicht in der Hosentasche hatte. Sein bedeutendster Besitz war ein Paar Lederschuhe, die Monsieur Lucien aus New Orleans mitgebracht hatte. Er trug sie selten, aber jetzt, da er alt genug für eine kurze Hose war statt des Baumwollkittels, den er bis zum Sommer getragen hatte, waren die Schuhe ausgesprochen wichtig. Er konnte nicht zulassen, dass sie weggeweht wurden. In zwei Tagen sollte die Schule beginnen, in einem Gebäude, das gerade erst errichtet worden war. Obwohl seine Mutter ihm noch nicht versprochen hatte, dass er sie besuchen durfte, hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Und dazu brauchte er Schuhe.
Außerdem waren da noch sein Rosenkranz und ein winziger Einbaum mit einem Seemann, die er aus einem weichen Ast geschnitzt hatte. Und Angelles Puppe. Als er an Angelle dachte, riss er die Augen auf und blickte Juan an. „Wird Angelle auch weggeweht?“
„Du musst deiner maman sagen, dass sie Angelle und dich zum Geschäft von Picciola bringen soll, wenn der Sturm beginnt. Wenn sie das nicht tut …“ Er zuckte die Schultern.
Raphael nickte feierlich. „Mein tonton , Auguste Cantrelle, hat ein großes, großes Haus.“
„Ach der!“ Juan spuckte die Worte aus. „Er wird euch nicht reinlassen.“
Raphael dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass Juan wahrscheinlich recht hatte. „Wann kommt dieser Sturm?“
„Wer weiß das schon? Vielleicht früher, vielleicht später.“ Juan machte einen Schritt nach vorn und umfasste Raphaels Kinn. Der alte Mann starrte Raphael lange genug in die Augen, dass der Junge sich wünschte, sich unsichtbar machenzu können. Doch er stand so ruhig und aufrecht da, wie er konnte, und wartete.
„Dein Vater war ein guter Mensch.“ Juan ließ die Hand sinken. „Du kanntest ihn nicht, aber ich. Er war gut, und er war stark. Les autres ? Die, die was anderes behaupten?“ Er spuckte auf den Boden.
Raphael war beeindruckt von Juans Worten. Er wollte noch mehr Fragen stellen, doch er war gebannt von der Enthüllung, dass Juan seinen Vater gekannt hatte. Plötzlich war er nicht mehr anders als die anderen Jungen auf der Chénière. Sein Vater war ein guter Mensch gewesen.
„Komm, ich zeig dir was.“ Juan drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Raphael war über all das, was er gehört hatte, zu aufgeregt, um Angst vor dem Sumpf zu haben. Also stolperte er Juan hinterher.
Juan teilte das Gras, wie er es zuvor schon getan hatte. Raphael folgte ihm und merkte sich den Weg, so gut es ging. Der Pfad war mal fest, mal feucht, und an manchen Stellen war das Riedgras höher als er. Er folgte Juans Zickzackkurs und warf ab und zu einen Blick auf das Dickicht von mit Moos behangenen Bäumen in der Ferne.
Sie hatten fast die Anhöhe erreicht, auf der drei Bäume standen, als Juan mit einem Mal einsank und das Wasser ihm bis zum oberen Rand seiner Stiefel reichte. Er drehte sich um und reichte dem Jungen die Hand. „Kommst du?“
Raphael starrte auf das Wasser. Er dachte daran, was seine Mutter sagen würde, wenn er mit einer nassen, dreckigen Hose zurückkommen würde. Und er dachte daran, was Juan sagen würde, wenn er nicht weiterging. Juan, der seinen Vater gekannt hatte. Er machte einen Schritt nach vorn und sank bis zur Brust ein.
Juan nickte anerkennend und ging weiter.
Der Schlamm quoll zwischen Raphaels Zehen hindurch.
Unter seinen Füßen spürte er die Muscheln und Wurzeln. Erdachte an all die Geschöpfe, die in diesem Wasser
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