Bis zur letzten Luge
lebten und vielleicht auf der Lauer lagen.
Aber schon im nächsten Moment kamen sie wieder an Land. Juan streckte seine Hand aus und zog ihn hoch. „Was hörst du?“
Raphael lauschte. Der Sumpf war seltsam still. Er runzelte die Stirn. „Nichts.“
„Das stimmt.“ Juan ging in Richtung der Bäume. „Nichts. Die Vögel, die nicht davongeflogen sind, lauschen auch, n’estce pas ?“
„Sie lauschen auf den Wind?“
„ Mais oui .“
Raphael starrte auf die Bäume, als sie sich ihnen näherten. Aus der Ferne hatte er nicht erkennen können, dass sie tot waren. Doch jetzt sah er, dass sie nur noch Skelette ehemals lebender Bäume waren, an denen wie ein Leichentuch das Moos hing. Er wollte nicht näher herangehen. Die Bäume waren tot, und er wollte nicht über sie nachdenken.
„Komm, ich zeig dir was“, sagte Juan wieder.
Und wieder blieb Raphael nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. So sorgfältig er auch versucht hatte, sich die Route einzuprägen, wusste er, dass er den Weg zu Juans Hütte oder ins Dorf zurück vermutlich niemals allein finden würde.
Er lief zwei Schritte hinter dem alten Mann und drehte sich genau wie er beim Gehen von Seite zu Seite. Juan blieb am Rand des verschwommenen Schattens stehen, den der mittlere Baum warf. „Kannst du die Sonne erkennen?“
Raphael hielt das für eine sehr seltsame Frage, denn die Sonne war hinter dicken dunklen Wolken verborgen. Trotzdem blinzelte er in den Himmel und wies dann auf den Punkt, an dem er die Sonne vermutete.
„Gut“, sagte Juan. „Merk dir das.“ Juan machte acht Schritte nach vorn – schnurgerade nach vorn. Dann wandte er sich um, sodass seine Schulter zu den Bäumen zeigte. Ermachte acht weitere Schritte geradeaus. An der Stelle kreuzten sich die kaum zu erkennenden Schatten von zwei der Bäume. Wieder vollführte er in einem bestimmten Winkel zum dritten Baum eine Wendung und machte anschließend noch acht Schritte. Schließlich blieb er stehen und deutete auf den Boden. „Hier.“
Raphael ignorierte seine Angst vor den Bäumen und trat zu Juan. „Was?“
„Hier. Grab hier.“
„Graben?“ Raphael blickte auf den Boden. Die Stelle schien sich nicht vom Rest zu unterscheiden. Er sah Juan an. „Warum?“
Juan legte seine Hände auf Raphaels Schultern und schob ihn sanft zurück. „Geh zurück. Versuch es noch mal allein.“
Verdutzt drehte Raphael sich um und ging zurück zum Schatten des mittleren Baumes. Als er sich wieder den Bäumen zugewandt hatte, war Juan zur Seite getreten. „Also“, rief Juan. „Noch mal.“
Raphael tat alles, was Juan getan hatte, und machte sogar größere Schritte, damit sie so lang waren wie die des alten Mannes. Er blieb stehen, als er sich sicher war, an derselben Stelle zu sein.
„ Non !“ Juan kam zu ihm und schob ihn zurück an die Stelle, an der die Schatten sich schnitten. Dort drehte er ihn grob zur Seite. „Was siehst du?“
Raphael blinzelte. In der Ferne, direkt vor ihm, war eine weite Lücke zwischen den Bäumen zu erkennen, die den Horizont säumten. Er zeigte in die Richtung. Juan nickte. „ Oui . Jetzt finde die Stelle.“
Dieses Mal gelangte Raphael an den Ort, an dem Juan ihn haben wollte.
Juan ging vor Raphael in die Knie, sodass sein Gesicht nur Zentimeter vom Gesicht des Jungen entfernt war. „Kannst du diesen Punkt wiederfinden?“
„ Oui .“
„Wenn der Wind mich holt“, sagte Juan, „kommst du wieder hierher und gräbst. Du sagst deiner maman , dass sie dich weit wegbringen soll, weit weg, an einen Ort, an dem dich niemand kennt und an dem niemand deinen papa kennt. Tu comprends ?“
Raphael hatte nicht genau verstanden, aber er war sich sicher, dass er auf Juan hören wollte. Hatte er nicht selbst davon geträumt, die Chénière zu verlassen?
„Wenn dieser Sturm mich nicht holt …“ Juan zuckte die Achseln. „Eines Tages wird mich irgendetwas holen.“
„Was wirst du tun, wenn der Wind kommt?“
„Ich werde mich in mein Boot setzen.“
„Und davonsegeln?“
Der alte Mann lächelte. Es war das erste Mal, dass Raphael überhaupt gesehen hatte, dass die Miene des Alten sich veränderte. „ Mais oui, mon ami . Ich werde davonsegeln.“
Lucien war zu lange geblieben. Als er zu seinem Boot ging, regnete es bereits, und dunkle Wolken verbargen das schwindende Licht des Tages. Der Strand war verlassen. Nur ein kleiner Junge bemühte sich, Luciens Boot weiter an Land zu ziehen und aus der Reichweite der Wellen, die sich unaufhaltsam auf
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