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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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Wäsche, um den Fisch zu kaufen, den sie nicht selbst fing. Was sie sonst noch brauchte, kaufte sie mit dem Geld, das sie von Monsieur Lucien bekam, oder mit den hübschen Geschenken, die er ihr gab. Die Geschenke tauschte sie mit dem Ladenbesitzer, und der schickte sie nach New Orleans, wo sie verkauft wurden.
    Étienne hatte Raphael mitgenommen, damit er das Haus seines Onkels sah. Es war eines der schönsten Häuser auf der Halbinsel. Fest verankert auf einer leichten Anhöhe landeinwärts, erhob sich das Gebäude hoch über den Boden und überragte die anderen Häuser, die es umgaben. Étienne hatte ihm erzählt, dass das Haus aus bousillage-entre-poteaux , also Lehm zwischen Holzpfosten, gebaut und daher so stabil war,dass es vermutlich noch am Jüngsten Tag stehen würde.
    Raphael war seither ein halbes Dutzend Male dort gewesen. Zweimal hatte er den Mann gesehen, der sein Onkel war. Auguste Cantrelle war groß – doppelt so groß wie Juan –, mit einer Brust, die so breit war wie das Segel eines Loggers, und mit dunklen Locken, wie auch Raphael sie hatte. Beim zweiten Mal war Raphael aus den Schatten getreten. Auguste Cantrelle hatte ihn angesehen; dann war er mit zorniger Miene davongeeilt.
    Er hatte seine Mutter nicht nach diesem riesigen Mann gefragt. Ein einziges Mal hatte er sich nach seinem Vater erkundigt. Sie hatte ihm erzählt, dass er keinen Vater, dass er keine Familie außer ihr und Angelle hätte. Immerhin reichten sie einander doch, oder?
    Er hatte auch nie gefragt, warum die Jungen nicht mit ihm spielen durften, warum die Mütter ihre Kinder zur Seite nahmen, wenn er an ihnen vorbeiging, oder warum sie Schimpfwörter murmelten, wenn sie ihn sahen. Er hatte beobachtet, dass einige Menschen mit seiner Mutter sprachen und andere nicht.
    Raphael schob seine Hand wieder in die Hosentasche. Dieses Mal nahm er das Päckchen mit dem Brot und dem Fisch heraus. Es war schon einige Zeit vergangen, seit am Mittag das Angelusläuten erklungen war. Sein Magen sagte ihm, dass es an der Zeit war, etwas zu essen. Aber er wollte nicht zu früh essen. Seine Mutter hatte ihn gebeten, den Nachmittag draußen zu verbringen. Monsieur Lucien wollte zu Besuch kommen. Also war es nicht möglich, zurückzugehen, um sie um mehr Brot anzubetteln. Er sollte erst wiederkommen, wenn die Sonne schon fast den Horizont berührte. Wenn er nicht gehorchte, würde er hungriger ins Bett gehen, als er es jetzt schon war.
    Er löste das Problem, indem er die Hälfte seines Vorrats aufaß und den Rest sorgfältig wieder einpackte, um ihn späterzu essen. Gestärkt machte er sich auf den Weg zu Juan.
    Juans Häuschen war weit entfernt. Es war ein langer Marsch durch die Siedlung, auch wenn Raphael so schnell ging, wie er konnte. Juan lebte allein in einem Haus, das dem von Raphaels Mutter sehr ähnlich war. Allerdings gab es keine Nachbarn, mit denen er das sumpfige Land teilte. Wenn die Abendbrise von Juans Hütte herüberwehte, brachte sie immer Moskitos mit. Moskitos waren netter als Menschen, sagte Juan. Sie stachen ein- oder zweimal und nahmen, was sie dabei kriegen konnten. Menschen dagegen ließen nicht eher locker, bis jeder Tropfen Blut ausgesaugt war.
    Zum ersten Mal hatte Raphael den alten Mann eines Morgens vor dem Geschäft von Picciola getroffen. Raphael hatte im Schatten auf seine Mutter gewartet und Hühner gejagt, um die Zeit totzuschlagen, als er bemerkte, wie Juan auf ihn zukam. Der alte Mann bewegte sich wie eine Krabbe – mit flinken kleinen Schritten zu einer Seite, ehe er anhielt und sich streckte und dann zur anderen Seite weiterlief.
    Juan war klein und mit fortschreitendem Alter immer krummer geworden. Dennoch ging er ohne Stock. Statt eines Huts trug er an jenem Tag einen roten Schal, den er über einem Ohr zusammengeknotet hatte. Niemand sprach mit ihm, als er zum Geschäft wackelte. Stattdessen wichen die Menschen ihm aus, als ob sie darauf bedacht wären, ihm nicht in die Quere zu kommen.
    Juan ging ihnen jedoch noch entschiedener aus dem Weg. Er lief lieber im Schatten am Wegesrand als auf der überfüllten Straße. Aber plötzlich machte er einen falschen Schritt und blieb mit dem Fuß in den Wurzeln eines Zedrachbaumes hängen. Er wäre gefallen, wenn Raphael nicht einen Satz nach vorn gemacht und ihn gestützt hätte, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
    Der alte Mann murmelte: „Merci!“ Dann griff er in seine Hosentasche, holte eine kleine Silbermünze hervor und drücktesie dem

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