Bis zur letzten Luge
verblüfften Raphael in die Hand, bevor er seinen Weg zum Geschäft fortsetzte.
Marcelite hörte sich die Geschichte auf dem Nachhauseweg an und nahm die Münze dann an sich, um sie aufzubewahren. Juan Rodriguez, erzählte sie Raphael, sei der Sohn eines Mannes, der mit Jean Lafitte gesegelt war; einige Menschen auf Chénière glaubten sogar, dass Juan selbst mit Piraten gesegelt sei. Juans Mutter sei ein Mädchen der Bayous gewesen und nach Juans Geburt auf die Chénière gezogen, wo sie auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet habe.
Raphael wusste, wie schwer seine Mutter arbeitete. Sie hatte keine Zeit, ihm Geschichten zu erzählen. Aber an jenem Tag, als die Silbermünze fröhlich in ihrer Tasche geklimpert hatte, hatte sie ihm von anderen erzählt, die auf der Chénière lebten.
Barataria Bay sei einst der Treffpunkt der Piraten gewesen. Einige der Menschen, die noch heute dort lebten, seien ihre Nachfahren. Raphael hatte aufmerksam zugehört, als sie noch mehr von den Menschen erzählte, die dort lebten – Geschichten von Menschen aus Italien, Spanien und Portugal, Geschichten von Menschen aus Manila und China, die Garnelen trockneten und dann darübertänzelten, bis die Schalen abfielen und mit der Strömung weggespült wurden. Doch er bat seine Mutter, ihm noch einmal Juans Geschichte zu erzählen. Als er an jenem Abend schlafen ging, schwor er sich, dass die nächsten Geschichten von Juan selbst kommen würden.
Juans Hütte war allerdings weit weg, und Étienne hatte behauptet, dass im Sumpf Geister herumspukten. Aber nach einer Weile traute er sich doch.
Am ersten Tag richtete Juan nicht ein Wort an ihn und auch am zweiten nicht. Doch nachdem Raphael ihn eine Woche lang täglich besucht und Juan geholfen hatte, frisches Wasser aus dem Brunnen zu holen und frische Palmblätterin das Dach seiner Hütte zu weben, fing Juan endlich an, mit ihm zu sprechen.
Inzwischen besuchte Raphael Juan, sooft er konnte. Manchmal war der alte Mann mit seinem Boot auf dem Meer; dann musste Raphael wieder nach Hause gehen, ohne ihn gesehen zu haben. Aber an manchen Tagen saß Juan draußen und war bereit, Geschichten zu erzählen. Raphael zehrte von diesen Geschichten über Eroberungen, genauso wie er vom Brot seiner Mutter lebte, das sie in ihrem Lehmofen backte.
Als Raphael jetzt ankam, war Juan nirgends zu entdecken. Sein Einbaum, den er im Sumpf hinter seiner Hütte benutzte, und das Boot, mit dem er auf den Golf hinaussegelte, waren jedenfalls da.
Raphael klopfte an Juans Hütte. Als sich nichts rührte, schob er die Tür ein paar Zentimeter auf, um einen Blick ins Innere zu werfen. Es war noch einfacher eingerichtet als Raphaels Zuhause. Der Boden war aus Lehm, und die Möbel waren nichts weiter als Baumstümpfe. In der Ecke stand ein kleiner Schrein, wie ihn auch Marcelite hatte. Doch hier fand sich neben dem schlichten Holzkreuz und den zwei Kerzenstummeln keine Statue der Heiligen Muttergottes.
Raphael schloss die Tür und zog sich zurück. In der Ferne hörte er Donnergrollen. Zwar wollte er nicht im Freien überrascht werden, wenn der Regen wieder einsetzte, aber er hütete sich davor, die Hütte ohne Juans Erlaubnis zu betreten. Er war gerade dabei, umzukehren und wieder ins Dorf zu laufen, als er bemerkte, wie sich das hohe Riedgras neben Juans Hütte wellenförmig bewegte. Erschrocken und wie versteinert starrte er in die Richtung. Plötzlich tauchte aus dem Nebel, der über dem Sumpfland hing, der alte Juan auf.
„Bist du das, Raphael?“
Raphael schluckte schwer. Einen Moment lang blieb ihm die Stimme weg, als hätten die Geister, von denen Étienne erzählt hatte, ihre knochenlosen Finger um seinen Hals gelegt.
Wieder schluckte er, doch diesmal fiel es ihm leichter. „Ich bin’s.“
„Siehst du nicht, dass ein Sturm aufzieht, mon ami ? Hast du keine Angst?“
Raphael schüttelte den Kopf und sah zu, wie Juan in seinem Krabbengang auf ihn zuwackelte. „Es ist doch nur Regen“, sagte er so tapfer wie ein guter Pirat.
„ Non . Aber ich wünschte, du hättest recht.“
„Es geht vorbei.“ Raphael blinzelte, als Juan näher kam. „Das sieht vielleicht so aus. Aber dann kommt es wieder.
Bumm ! So!“ Juan klatschte in die Hände.
„Woher weißt du das?“
„Ich habe so etwas schon mal gesehen. Die Möwen und die Pelikane verschwinden. Die Kühe begeben sich auf eine Anhöhe.“
„Warum?“
„Damit sie nicht so schnell sterben.“
Erschrocken wich Raphael einen Schritt zurück.
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