Bis zur letzten Luge
den Armen. „Der Wind hätte dich davontragen können!“
„Ich war vorsichtig.“ Als Ti’Boo nun mit ausgebreiteten Armen vor ihr stand und sie anblickte, nutzte Aurore kurz entschlossen die Gelegenheit und schlang die Arme um die Taille ihrer Freundin. „Sag es niemandem, ja?“Zögerlich strich Ti’Boo über Aurores lange braune Locken. „Du Dummerchen! Ich werde es niemandem verraten. Doch wenn wir nicht schnell zurücklaufen, findet uns noch jemand hier.“
Aurore blickte ihre Freundin an, ohne sie loszulassen. Sie fand Ti’Boo mit dem fröhlichen runden Gesicht und den glatten langen Haaren, die zu zwei Zöpfen geflochten waren, ausgesprochen hübsch. „Ich will nicht nach Hause! Ich will für immer hierbleiben!“
„Im nächsten Sommer kommst du zurück, und dann werde ich mich wieder um dich kümmern.“
„Ich wünschte, du könntest nach New Orleans kommen!“
„ Non , mein Zuhause, das sind die Bayous. Was sollte meine maman denn ohne mich machen? Sie hat doch zwölf hungrige Mäuler zu stopfen!“
Aurores Miene hellte sich auf, und sie schmiegte sich wieder an ihre Freundin. „Ich könnte doch mit dir zum Bayou Lafourche kommen. Ich könnte helfen.“
Ti’Boo lachte. „Und was sollte deine maman dann machen? Ohne ihr kleines Vögelchen?“
Aurore glaubte kaum, dass es ihrer Mutter besonders viel ausmachen würde.
„Komm schon! Lass uns zurücklaufen, ehe irgendjemand bemerkt, dass wir fort waren.“
Aurore löste sich von Ti’Boo und warf einen letzten Blick auf die Wellen. Sie versprach ihnen, dass sie im nächsten Sommer wiederkommen würde. Dann folgte sie Ti’Boo durch die Dünen.
5. KAPITEL
R aphael Cantrelle stand auf einer Düne und beschattete mit einer Hand die Augen, als er auf das Meer hinausblickte. In der Ferne fuhren Piratenschiffe mit geblähten Segeln und Masten, die so hoch waren, dass sie die schwarzen Wolken durchbohrten und die Route des Korsaren in den Himmel ritzten.
Sie kamen, um ihn abzuholen.
Raphael schob die Hand in die Hosentasche. Einen Moment lang betastete er mit den Fingern den winzigen Schatz, den er dort aufbewahrte. Er hatte ein Seilende, ein Stück Brot und geräucherten Fisch, die in ein Tuch gewickelt waren, eine Glasscherbe, die vom Meer glatt geschliffen worden war, zwei Muscheln und ein Stück Treibholz, das wie ein Dolch geformt war. Die Piraten würden sicher stolz sein, ihn an Bord zu haben. Jean Lafitte höchstpersönlich würde ihn bitten, auf dem größten und besten Schiff zu segeln.
Er würde ablehnen müssen.
Während er zusah, verschwanden die Schiffe nacheinander, bis nur noch der wolkige Himmel, die See und zwei Fischerboote zu erkennen waren, die in den Hafen einfuhren. Er erkannte eines der canots mit seinem roten Segel und dem grün gestrichenen Rumpf wieder. Es gehörte dem Vater von Étienne Lafont, einem Jungen in seinem Alter, mit dem er spielte, sooft es Étienne gelang, sich von zu Hause fortzuschleichen.
Neben Juan Rodriguez war Étienne sein bester Freund. Étienne wollte auch ein Pirat sein, aber Juan war ein Pirat. Bis zu dem Tag, an dem seine Mutter ihn nicht mehr brauchte und Raphael zusammen mit Dominique You und Nez Coupé davonsegeln würde, konnte Juan ihm alles beibringen, was er unbedingt wissen musste. Und falls die beiden schon tot waren, wie Étienne behauptete, würde er ebenmit jemand anders segeln.
Er wollte die Chénière verlassen. Zwar kannte er keinen anderen Ort, an dem man leben konnte, und noch nie hatte er die Passage zur Grand Isle überquert; doch er wusste, dass es irgendwo einen Ort geben musste, wo keine Frau seine Mutter beschimpfte und wo kein Mann seinen Kindern verbot, mit ihm zu spielen.
Erst vor Kurzem hatte er herausgefunden, dass er anders war als die anderen Jungen. Er war nicht das einzige Kind auf der Chénière, das keinen Vater hatte. Von Zeit zu Zeit forderte der Golf seine Opfer. Dann wurden Boote an den Strand gespült – leer und vom Sturm zerstört. Aber andere vaterlose Kinder hatten Familien, die sich um sie kümmerten. Onkel und Cousins, Großväter und Paten brachten ihnen Fisch und Wild, Milch und frisches Gemüse aus ihren Gärten. Ihre Mütter waren überall im Dorf willkommen.
Von Étienne hatte er letzte Woche erfahren, dass auch er, Raphael, Familie auf Chénière Caminada hatte – einen Onkel. Einen Onkel, der eigentlich in der Lage war, sich um Raphaels Mutter zu kümmern. Doch niemand brachte ihr Fisch oder Milch. Sie flickte Netze und wusch
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