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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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aufzupassen, und er klammerte sich ans Boot, als die Wand eines Hauses vorbeischwamm.
    Die Kirche war noch immer ein gutes Stück entfernt, doch mit jedem Schritt kamen sie näher. Momente vergingen, ohne dass die Kirchenglocke zu hören war. Ein anderes Boot kam an ihnen vorbei, und ein Mann schrie ihnen etwas zu. Das Boot war voller Menschen, die ebenfalls ein sicheres Haus suchten.
    Das Wasser ging Lucien inzwischen nur noch bis zum Bauch. Die Flaute war da. Der Wind hatte aufgehört; goldenes Mondlicht fiel warm auf die entsetzliche Szenerie. Er hätte sich fast einreden können, der Sturm wäre nur ein Traum gewesen, so plötzlich war es ruhig. Unwillkürlich fragte er sich, ob der Wind überhaupt wieder aufleben würde oder ob esendgültig vorbei war. Er verlangsamte seine Schritte ein wenig, lief vorsichtig weiter und hielt Ausschau nach Orientierungspunkten. Aber es schien so, als wäre alles von der Halbinsel heruntergespült worden. Nichts war mehr übrig, das er hätte wiedererkennen können.
    Er warf einen Blick zurück und sah die Umrisse von Marcelite und den Kindern. Ein Gefühl der Befriedigung erfasste ihn, weil sie zumindest in diesem Moment auf sein Wohlwollen angewiesen war. Was blieb ihr jetzt noch übrig? Genau wie er war sie dem Sturm ausgeliefert, und sie brauchte ihn und seine Kraft. Was waren ihre Drohungen wert, wenn ihr Überleben und das der Kinder so sehr von ihm abhing? Er fragte sich, ob sie sich an diesen Augenblick erinnern würde, wenn der Sturm vorüber war.
    Schreie hallten durch die Nacht, doch die Kirchenglocke hatte Lucien länger nicht gehört. War sie am Ende abgestürzt? Oder war der Wind so abgeflaut, dass er die schwere Glocke nicht länger hin und her schwingen konnte? Er hatte sich darauf verlassen, dass der Klang ihm den Weg weisen würde. Jetzt wurde ihm klar, dass er möglicherweise vom Kurs abgekommen und vielleicht schon auf dem Weg in den Sumpf war. Verwirrt und erschöpft blieb er stehen, um sich kurz auszuruhen.
    „Was ist los, Lucien?“
    Er hatte nicht mehr den Atem, um ihr antworten zu können.
    „Wir müssen weiter!“
    Er hörte die Angst in ihrer Stimme, und es gefiel ihm, dass er die Macht besaß, diese Angst noch zu steigern. Er verschnaufte weiter, bevor er ihr antwortete: „Müssen wir? Ich weiß nicht, wohin wir sollen.“
    „Ich werde dich führen. Bitte, geh weiter!“
    „Wie kannst du mich führen? Kannst du irgendetwas erkennen, das ich nicht sehe?“
    „Wir sind nicht mehr weit entfernt. Hör doch! Hörst du die Glocke läuten?“
    Die Kirchenglocke erklang wieder. Sie war näher, als er gedacht hätte. Das Geräusch ermutigte ihn. Er schlang das Seil um seinen Bauch und knotete es fest, ehe er weiterging.
    „Wir sind gleich da. Bitte, Lucien, bleib nicht wieder stehen!“
    Er spürte neue Kraft. In dieser Krise war Marcelite so, wie er sie sich immer vorgestellt und gewünscht hatte. Sie hatte keine andere Wahl. Ihr Leben hing von ihm ab. Er wandte den Kopf, um ihr das zu sagen, und sah den Furcht einflößendsten Anblick, den er je gesehen hatte.
    Schwarze Wolken ballten sich im Westen zusammen. Zuckende Blitze erhellten sie. Donner grollte durch die Stille – zwar noch fern, aber mit jedem Dröhnen kam er näher. Der Wind war inzwischen wieder so stark, dass die Glocke hin und her schwang. Während er zusah, schienen die Wolken stetig näher zu kommen – eine Armee des Todes, in Schwarz gehüllt.
    Er drehte sich um und stürzte vorwärts. Mit der einen Hand hielt er das Seil fest, das um seinen Bauch gebunden war, mit der anderen schob er alles aus dem Weg, was an ihm vorbeitrieb. Er konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit noch blieb, um die Kirche zu erreichen, doch er wusste, dass es nicht mehr viel war. Die Flaute war vorbei. Und nun kam eine Sturmfront auf sie zu, die so gewaltig war, dass das, was sie bisher erlebt hatten, nichts dagegen war.
    Er stolperte, fand an irgendetwas Halt, das er nicht erkennen konnte, erlangte sein Gleichgewicht wieder und lief weiter. Atemlos zog er das Boot hinter sich her. Der Regen setzte wieder ein. Zuerst fielen nur wenige Tropfen, aber schon bald wurde es mehr und mehr. Es blitzte so oft und so heftig, dass der Nachthimmel wie von der Sonne erhellt zu werden schien. Die Schreie überlebender Tiere, die den nahendenTod spürten, vermischten sich mit dem Heulen des Windes. Lucien lief weiter, nahm nichts mehr wahr außer der Glocke.
    Zuerst dachte er, das flackernde Licht in der Ferne wäre ein

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