Bis zur letzten Luge
Blitz. Erst Marcelites Ruf machte ihm klar, dass es eine Lampe im Fenster des Pfarrhauses war. Ein Gefühl wie Freude oder Stolz ergriff ihn. Er war fast in Sicherheit. Der Sturm kam mit einem unvorstellbaren Zorn heran, doch er hatte noch Zeit – zwar sehr wenig Zeit, aber immerhin.
Er stürmte auf das Licht zu, ließ sich von dem Leuchten leiten. Die Glocke hallte im Rhythmus seines wie wahnsinnig hämmernden Herzens. Nur noch ein kleines Stück. Nur noch wenige Meter.
Beinahe hatte er es über die Überreste eines Hauses hinweggeschafft, als er merkte, dass er festhing. Er riss am Seil, und einen Moment lang glaubte er tatsächlich, dass er das Boot befreit hätte. Doch die Strömung schob es wieder gegen die Trümmer, und das Seil verhakte sich erneut. Er zerrte, aber es gab nicht nach.
Der Himmel war so hell, dass er erkennen konnte, wo das Problem lag. Es war nichts Schlimmes, leicht aus der Welt zu schaffen.
„Werft mir die Axt rüber!“, schrie er und trat an die Seite des Bootes. „Um Himmels willen, gebt mir die Axt!“
Er konnte Marcelites Miene deutlich sehen. Sie war zu Tode erschrocken, und Angelle klammerte sich schreiend an sie. Nur Raphael schien noch in der Lage zu sein zu reagieren. Eilig kroch er über den Boden des Bootes und brachte Lucien die Axt. Ihre Blicke trafen sich. Lucien sah die Panik. Und was noch schlimmer war: Er sah die Resignation.
Hinter dem Jungen bemerkte Lucien, wie die Sturmfront unaufhaltsam näher kam. Der Wind schob eine Wasserwand vor sich her, die höher war als alles, was auf der Halbinsel noch stand. Ein Schrei entrang sich seiner Brust. Er packte die Axt und drehte sich um. Wie besessen schlug er auf den abgebrochenenStützpfeiler ein, an dem das Seil sich verhakt hatte. Das Holz splitterte. Noch ein Schlag, nur ein Schlag, und das Boot war frei.
Lucien drehte sich um. Raphael beobachtete ihn. Regen prasselte auf die Locken des Jungen und rann ihm wie Tränen übers Gesicht. Dahinter erblickte er Marcelite. Ihr Leben lag in seinen Händen, vollkommen in seinen Händen.
Noch einmal schlug er mit der Axt zu. Doch nicht auf den Pfeiler. Das Seil wurde an der Stelle, die er getroffen hatte, glatt durchtrennt. Innerhalb weniger Sekunden zog das Gewicht des Bootes nicht mehr an ihm. Er drehte sich um und sah zu, wie es in der Strömung schlingerte und sich weiter und weiter von ihm entfernte. Er hörte Schreie und wusste nicht, aus welcher Kehle sie stammten. Im nächsten Moment war das Boot verschwunden.
Den Kopf gesenkt, wandte er sich wieder dem Licht zu, das im Pfarrhaus flackerte, und kämpfte sich halb schwimmend, halb watend dorthin durch.
Die Glocke läutete, als Pater Grimaud ihn willkommen hieß und in die Arme schloss. Tränen liefen über seine Wangen. Die Glocke tönte weiter, bis das Einzige, was Lucien noch hörte, ihr Geläut war. Lauter als die Schreie der Sterbenden. Lauter als seine eigenen Schreie.
Die Glocke läutete, und selbst als sie schließlich verstummt war, konnte Lucien sie noch hören.
9. KAPITEL
A cht kleine Mädchen saßen in Belindas Wohnzimmer, als Phillip von seinem Besuch bei Aurore Gerritsen zurückkehrte. Er erkannte Amy und ihre kleine Schwester wieder, aber die anderen Kinder waren ihm fremd. Jedes Kind hatte einen Bogen Zeitungspapier vor sich liegen und darauf einen Klumpen rostroten Modelliertons.
Belinda stand am anderen Ende des schmalen Zimmers. Sie trug ein langes Kleid aus fließendem Stoff in leuchtendem Blau und Grün. Ein grüner Turban bändigte ihr Haar.
Sie warf Phillip ein vorsichtiges Lächeln zu, beachtete ihn dann jedoch nicht weiter. Offensichtlich hatte sie erst gerade mit ihrem Vortrag begonnen. „Wir wissen nicht viel über die NokKultur, denn die Geschichte Afrikas hat die Weißen nie besonders interessiert. Doch eines wissen wir: Schon fünfhundert Jahre bevor Römer und Juden sich über die Lehren von Jesus gestritten haben, haben die Nok-Leute Terrakottastatuen hergestellt. Sie fertigten sie aus ähnlichem Ton wie dem, der jetzt vor euch liegt.“
„Wann machen wir was damit?“, fragte eines der kleinen Mädchen in der vordersten Reihe.
„Wenn ihr lieb seid und eine Weile zugehört habt, machen wir etwas damit. Zuerst möchte ich, dass eine von euch nach vorn kommt und auf dieser Karte Nigeria zeigt.“ Belinda bückte sich und griff hinter sich. Als sie sich aufrichtete, hielt sie eine große Karte von Afrika in der Hand.
Niemand rührte sich.
„Weiß es keine von euch?“
Amy hob
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