Bis zur letzten Luge
emotional, steckten voll geheimer Ängste und Wünsche. Im Laufe der Jahre waren aus dem Kind Aurore und seinem Kindermädchen Ti’Boo echte Freundinnen geworden.
Lucien hatte die Brieffreundschaft der beiden nur am Rande mitbekommen. Die Bildung einer Frau zeigte sich am offensichtlichsten in der Genauigkeit und Sorgfalt ihrer Schreibkunst und in ihrer Fähigkeit, sich auszudrücken. Er hatte Aurore ermutigt, eifrig ihre Fertigkeiten zu üben, die ihren Aufstieg in der Gesellschaft beschleunigen würden. Aber als Aurore nach dem jahrelangen Briefwechsel mit Ti’Boo gefragt hatte, ob sie zur Hochzeit reisen dürfe, war er erstaunt gewesen.
„Eine Hochzeit an den Bayous?“ Lucien hatte sich aus seinem Lieblingssessel im Salon erhoben und die Uhrenkette betastet, die in seiner Tasche verschwand. „Du willst doch nicht mehr tun, als Ti’Boo ein kleines Geschenk zu schicken, oder?“
„Ich würde gern an der Hochzeit teilnehmen.“ Aurore hatte nicht unsicher mit den Händen an irgendetwas herumgespielt. Mit siebzehn wusste sie, wie wichtig es war, ruhig zu bleiben, wenn sie ihrem Vater gegenübertrat. In vielerlei Hinsicht war Lucien ihr ein Rätsel, doch seine Fähigkeit, Schwächen zu spüren und einzuschätzen, war keines. Sie hatte kein Öl ins Feuer gießen und einen Streit heraufbeschwören wollen.
„Und warum?“
Sie gab ihm die Antwort, die sie sorgfältig geprobt hatte. „Ich glaube, dass mir eine Veränderung guttun würde. Ein bisschen frische Luft, ein bisschen Sonnenschein, und ich binwieder für die nächsten Gesellschaften gewappnet.“
„Es gibt andere, bessere Möglichkeiten, um frische Luft zu genießen.“
„Aber so würde ich wirklich einmal aus allem herauskommen. Cleo könnte mich auf dem Dampfschiff begleiten, und sobald ich angekommen bin, werde ich sowieso keine Sekunde aus den Augen gelassen. Ti’Boos Familie ist da sehr altmodisch.“ Sie hatte ein Lächeln gewagt. „Die Cajuns behüten ihre Töchter beinahe genauso streng wie du deine.“
„Du findest meine Aufopferung also lustig?“
Aurore fand an ihrem Vater nichts lustig. Unendlich viele unterschiedliche Gefühle banden sie an Lucien; dass sie ihn nicht verstand, änderte nichts daran.
„Ich bemühe mich nur, dich zu beruhigen“, erwiderte sie also. „Man wird sich gut um mich kümmern, und wenn ich zurückkomme, werde ich einige unterhaltsame Geschichten haben, die ich dir erzählen kann.“
Aber der Reiz der neuen Geschichten reichte nicht aus, um Lucien umzustimmen. Seiner Meinung nach waren die Cajuns Bauern und die Bayous voller Moskitos und gefährlicher Reptilien. Als sie ihn daran erinnerte, dass sie schon ganze Sommer im Süden Louisianas verbracht hatte, presste er die Lippen aufeinander wie Tante Lydia. Aurore hatte den Streit verloren.
Jetzt war sie auf dem Weg zu Ti’Boos Hochzeit, obwohl ihr die Reise untersagt worden war. Lucien war auf Geschäftsreise in New York und Minnesota, und Cleo, die neueste einer langen Reihe von Haushälterinnen, hatte sich als durchaus empfänglich für Bestechungsversuche erwiesen. Wenn alles so lief wie geplant, war Aurore wieder in New Orleans, bevor ihr Vater zurückkehrte. Falls das nicht gelang, würde sie die Konsequenzen tragen müssen. Es gab nur weniges, das sie wirklich wollte und das Lucien ihr zur Strafe verbieten könnte. Nur selten genoss sie seine Aufmerksamkeit und nieseine Liebe. Wie konnte er ihr also etwas entziehen, das er ihr nie gegeben hatte?
„Mademoiselle Le Danois?“
Beim Klang der Stimme des Kapitäns drehte Aurore sich um. Während New Orleans anmutig den Schritt ins zwanzigste Jahrhundert wagte, hatten die Sitten sich geändert. Französisch war inzwischen als gleichberechtigte Handelssprache abgelöst worden und nur noch eine Beilage. Aurore träumte in einer Mischung aus Englisch und Französisch, doch sie hatte sich daran gewöhnt, kaum noch Französisch zu sprechen. Die Menschen an den Bayous wie der Kapitän, ein relativ junger Mann, hatten sich noch nicht angepasst.
Sie antwortete ihm auf Französisch. „Sind wir bald da?“ Er zupfte an seinem Schnurrbart. „Es sollte nicht mehr lange dauern. Die Wasserhyazinthen behindern die Fahrt jedes Mal. Vermutlich werde ich bald auf einem Maultier durch die Bayous reiten.“
„Wie kann etwas so Schönes eine solche Prüfung sein?“ Seine Miene war voll unverhohlener Bewunderung. „Im Gegenteil – alles Schöne ist immer eine Prüfung, wie Ihr Herr Vater wahrscheinlich schon
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