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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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verschränkte ihre Finger mit Ti’Boos. Die Hände ihrer Freundin waren rau und zeugten davon, dass sie stundenlang Wäsche geschrubbt und den Gemüsegarten umgegraben hatte. „Und falls er es doch herausfindet?“ Sie zuckte die Achseln. „Er hat keine weiteren Kinder, und es besteht auch nicht die Chance, dass er noch welche bekommt. Was auch immer er sieht, wenn er mich anblickt – er sieht auch seine einzige Hoffnung auf Unsterblichkeit.“
    „So spricht man nicht über seinen Vater!“ Die Worte klangen nicht vorwurfsvoll. Ti’Boo wirkte eher traurig, weil Aurore gezwungen war, so etwas zu sagen – etwas, das nur zu wahr war.
    „Lass uns während meines Aufenthaltes hier einfach so tun, als hätte ich keinen Vater. Lass uns so tun, als wäre ich …“, Aurore überlegte, „… deine Schwester.“
    „Schwester? Ich habe schon Schwestern. Zu viele Schwestern. Eine Cousine? Aus New Orleans?“
    „Eine Cousine.“ Aurore lächelte. „Deine Lieblingscousine. Also, Cousinchen, wann lerne ich Jules Gilbeau kennen?“
    Ti’Boo zog sie zur Seite, um einem Fuhrwerk Platz zu machen, das von zwei robusten Pferden gezogen wurde. „Er kommt heute Abend vorbei. Dann lernst du ihn kennen.“
    „Ist er gut aussehend? Wirklich gut aussehend?“
    „Gut aussehend? Ach, wahnsinnig gut aussehend! Ungelogen – er hat nur ein paar kleine Fehler. Ein Bein ist länger als das andere, deshalb geht er am Stock. Und er hat keine eigenen Zähne mehr. Allerdings hat er versprochen, noch vor der Hochzeit in Donaldsonville neue zu besorgen. Sein Haar ist zu lang, also bindet er es wie ein Chinese oben auf dem Kopf zusammen – auch um die kahlen Stellen zu verbergen.“
    „Ti’Boo!“
    Die Freundin lachte und drückte Aurores Hand. „Mach dir einfach selbst ein Bild, chérie !“
    „Er ist der hübscheste alte Mann im Dorf“, kicherte Minette.
    Ti’Boo boxte ihr freundschaftlich gegen die Schulter. „Er ist nicht alt … nur erfahren. Die jungen Männer, die dir den Hof machen, sind wie Gumbo ohne Pfeffer oder Salz.“
    „Die jungen Männer, die mir den Hof machen, sind zu viele, um sie zu zählen.“
    Aurore lauschte, wie die beiden Schwestern sich gegenseitig aufzogen, während sie sich langsam dem Haus der Familie näherten. Obwohl es Herbst war und bereits später Nachmittag, brannte die Sonne durch den steifen Stoff ihres Kleides hindurch auf ihre Schultern und ihren Nacken. Der Staub,den das Fuhrwerk aufgewirbelt hatte, vermischte sich mit der feuchten Luft des Sumpflandes und der Bayous, sodass die Luft sich beim Atmen zäh anfühlte. Selbst der kurze Spaziergang machte sie müde.
    Minette senkte die Stimme. „Wer ist der Mann, der das Fuhrwerk lenkt, Ti’Boo?“
    Aurore blickte zu dem Pferdegespann. Es hatte an der Straße gegenüber dem Haus von Ti’Boo gehalten. Während sie zusahen, sprang ein junger Mann vom Wagen und band die Pferde an einem Zaunpfahl fest. Ein älterer Mann folgte ihm in etwas gemäßigterem Tempo.
    Das Fuhrwerk hatte Holz geladen. Es waren raue, unbehandelte Bretter, die aussahen, als stammten sie direkt aus dem Sägewerk. Der junge Mann schulterte einige der Bretter und zog sie vom Anhänger; der ältere Mann packte die Enden, und gemeinsam gingen die beiden durch die Gartenpforte.
    „Étienne Terrebonne“, antwortete Ti’Boo, „und sein Vater Faustin. Faustin hat ein Sägewerk in den Sümpfen. Étienne ist sein einziges Kind.“
    „Das ist Étienne?“ Minette riss die Augen auf. „T’es sûr de la?“
    „Ich bin mir sicher“, erwiderte Ti’Boo. „Als du ihn das letzte Mal gesehen hast, hast du noch mit deinen Freundinnen auf dem Damm faire la statue gespielt. Du hast dich damals noch nicht für junge Männer interessiert.“
    Minette rollte mit den Augen. „So eine Zeit gab es mal?“ Aurore und Ti’Boo lachten. Falls Aurore sich Sorgen gemacht hatte, dass der Besuch hier den Zorn ihres Vaters vielleicht nicht wert war, so war diese Sorge so gut wie weggeblasen.
    Das Lachen blieb ihr allerdings im Halse stecken, als Faustin Terrebonne ins Stolpern geriet und die Bretter, die er auf der Schulter balanciert hatte, gegen den Ast eines Baumes imGarten schwangen. Einen Moment lang hörte man nur das Krachen von Holz; in der nächsten Sekunde war die Luft erfüllt von einem wilden Summen.
    „Ein Hornissennest!“ Ti’Boo zeigte in die Richtung, aus der das Summen kam. „Seht doch, er hat ein Hornissennest getroffen!“
    Aurore wägte die Entfernung ab. Schon jetzt hatten

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