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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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gemerkt hat.“
    Sie wandte sich wieder dem Wasser zu. Die Wasserhyazinthen, deren lavendelblaue Blüten sich der Sonne entgegenreckten, bildeten einen Teppich auf dem Wasser der Bayous. Sie stammten aus dem Orient, waren vor Jahrzehnten von Bewunderern ausgesetzt worden, die nicht mit den Folgen und Schäden hatten rechnen können, die sie damit anrichteten. „Kennen Sie meinen Vater, Captain Barker?“
    „Ich habe von ihm gehört.“
    „Ich hoffe, Sie haben nicht vor, ihn besser kennenzulernen?“
    „Wie bitte? Um unsere Bekanntschaft damit zu beginnen, ihm zu erzählen, dass ich seiner Tochter bei der Flucht geholfen habe?“
    „Ich bin nicht auf der Flucht! Ich laufe nicht weg – zumindest nicht für lange.“
    „Da bin ich erleichtert. Und ich wäre noch erleichterter, wenn Sie mir sagen würden, dass es kein Mann ist, zu dem Sie laufen.“
    Sie fragte sich, ob alle Männer von Natur aus so eingebildet waren, dass sie annahmen, eine Frau würde nur weglaufen, um von einem in die Arme eines anderen zu flüchten. „Ich besuche die Hochzeit einer Freundin.“
    „Dieser Teil der Bayous ist, gelinde gesagt, ziemlich entlegen.“
    „Zum Glück.“
    „Dann sind Sie darauf vorbereitet, dass es dort unzivilisiert zugeht?“
    „Es ist wirklich ein Jammer, dass Sie meinen Vater nicht kennen! Sie würden sich ausgezeichnet mit ihm verstehen.“ Sie lauschte den Schritten des Kapitäns, als er sich entfernte. Die Aussicht veränderte sich, und sie sah sich neugierig um.
    Bei Anbruch des vergangenen Tages war sie an Bord gegangen, nicht weit von der Saint Louis Street und dem Anleger entfernt, an dem Zuckerrohr angeliefert wurde. Die Strecke über den Mississippi war ihr vertraut, aber nach dem Kanal kamen die Bayous. Aurore vertrieb sich die Zeit damit, die plantation houses zu betrachten, jene für die Südstaaten so typischen, von Säulen gesäumten, eingeschossigen Häuser. Einige der Bauten waren baufällig, Opfer der schlechten wirtschaftlichen Situation und der anhaltenden Auswirkungen des Bürgerkrieges. Andere herrschten stolz über die Felder, die sie umgaben, als hätten die Tage von Plantagenbesitzern in hellen Anzügen und ihren Töchtern in ausladenden Reifröcken nie geendet.
    Zwischen den Plantagen gab es Siedlungen mit bescheideneren Häusern. Diese interessierten Aurore weitaus mehr, denn sie sahen wie die Häuser aus, die Ti’Boo so oft in ihrenBriefen beschrieben hatte. Sie hatte viel Zeit, um sich die Gebäude anzusehen, denn das Schiff hielt an jedem einzelnen, um Geschäfte zu machen. Deshalb war sie auch gezwungen gewesen, die Nacht auf einer Pritsche in einer der winzigen Kabinen unter Deck zu verbringen – unter den wachsamen Blicken der Kapitänsgattin.
    Die Häuser standen nahe beieinander, wie Perlen aufgereiht an den Ufern der Bayous. Hier und da waren auf den Dämmen Kühe und Maultiere angebunden, und Kinder tollten unter den Bäumen, die ab und zu am Ufer standen. Das waren die Siedlungen der Cajuns, das war die Heimat der petits habitants . Das war die Seele des Bayou Lafourche.
    Ti’Boo lebte in einer solchen Siedlung namens Côte Boudreaux. Es war eine Ansammlung von Häuschen am südlichen Ende des Bayous. Das Land war geteilt und wieder unterteilt worden, bis es für jede der Familien hinter dem Damm nur noch wenig fruchtbares Ackerland gegeben hatte.
    „Doch was macht das schon?“, hatte Ti’Boo in einem ihrer Briefe gefragt. Was brauchte ein Mann? Wie viel Land benötigte er? Nur so viel, um seine Lieben zu versorgen, um ein bisschen Zuckerrohr anzupflanzen, damit er es gegen Waren eintauschen konnte, die er nicht selbst herstellen konnte, und um ein bisschen dazuzuverdienen, damit er der Kirche Gutes tun konnte.
    Ein bisschen dazuverdienen. Aurore dachte an all das, was sie besaß, und an all das, was sie nicht hatte. Ti’Boos Leben kam ihr so außergewöhnlich vor wie das eines Parsen oder eines Hottentotten.
    Die Schaufelräder wurden langsamer, als eine der schwimmenden Brücken, die mithilfe eines Drahtseils von Ufer zu Ufer gezogen wurden, an ihnen vorbeiglitt. Aurore sah nach vorn, als eine weitere Gruppe von Häusern mit langen Veranden, die getüncht oder in verwitterten Pastelltönen gestrichen waren, in Sicht kam. Am Anleger standen Menschen und winkten.
    „Côte Boudreaux“, verkündete der Kapitän, der hinter ihr aufgetaucht war. „Es sieht so aus, als hätten Sie hier Freunde.“
    Aurore winkte zurück. Ihr Empfangskomitee war zu weit entfernt, um

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