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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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schattigen Bayou mit den wogenden Gräsern, den majestätischen Vögeln und den gewaltigen Flächen mit Zuckerrohr vor sich sehen. Sie konnte den schweren, süßlichen Geruch von kochendem Zucker riechen, der nach dem Mahlen noch immer in der Luft hing, konnte die Rufe von den Plantagen und Anlegern hören, die sich seit dem Bürgerkrieg kaum verändert hatten.
    Sie wünschte sich, sie wäre wieder dort und könnte ihr Leben noch einmal leben.

10. KAPITEL
    Z ugegeben, es war ungewöhnlich für die Erbin einer der größten Dampfschifffahrtslinien von New Orleans, auf einem caboteur , einem kleinen Handelsschiff, in die Bayous zu reisen. Noch ungewöhnlicher war die Art, wie Aurore die Fahrt bezahlt hatte.
    Die Brosche, die sich jetzt in der Westentasche des Kapitäns befand, hatte früher einmal Aurores Tante Lydia gehört. Tante Lydia war eine Frau gewesen, die Aurores Vater sehr ähnlich gewesen war. Femininer Schmuck aller Art hatte nur ihr kantiges Kinn und den leichten Damenbart unterstrichen, der über ihren immer zusammengepressten Lippen geschimmert hatte. Vor zwei Jahren war Lydia gestorben, als sie eine Straße im French Quarter hatte überqueren wollen. Manchmal waren eine Genickstarre und ein unbeirrbarer Blick geradeaus von Nachteil – vor allem wenn eine dieser neumodischen elektrischen Straßenbahnen nur wenige Meter entfernt war.
    Seit dem Tag, an dem sie den Schmuck ihrer Tante geerbt hatte, hatte Aurore versucht, ihn loszuwerden. Lucien kümmerte sich um Aurores Bedürfnisse. Sie hatte so viele Kleider, dass sie damit mehrere Kleiderschränke füllen konnte, und mehr Hüte, als sie in einem Monat tragen konnte. Aber sie hatte kein Geld, das sie ausgeben konnte. Geld war laut Lucien für eine junge Frau aus gutem Hause unnötig. Eine kreolische Lady musste nur fragen – nett natürlich –, und sie bekam all das, was wirklich gut für sie war.
    Die Möglichkeit, dass kein Geld zu haben das Verlangen danach zu einer verzehrenden Leidenschaft steigern könnte, war Lucien nie in den Sinn gekommen. Frauen in seiner gesellschaftlichen Schicht hatten keine verzehrenden Leidenschaften. Sie existierten, um das Leben der Männer zu verschönern. Da Aurore nie den Mut gehabt hatte, seine Ansichten offenzu kritisieren, verkaufte sie einfach all die Dinge, die sie besaß und von denen sie sicher war, dass er sie nicht vermissen würde. Oder sie tauschte sie ein. Eine Brosche für die Fahrt auf dem Handelsschiff zu Ti’Boo an den Bayou Lafourche und wieder zurück war ihr nicht übertrieben erschienen.
    Während sie nun an den Dämmen vorbeiglitten, lehnte sie sich an die Reling des Schiffes und stellte sich die kommenden Tage vor.
    Endlich würde Ti’Boo heiraten. Mit vierundzwanzig Jahren hatte Ti’Boo sich selbst schon für une vieille fille , eine alte Jungfer, gehalten. Mit achtzehn – einem besseren Alter, um in den heiligen Stand der Ehe zu treten – hatte sie einen Heiratsantrag bekommen. Doch der Junge war fett und faul gewesen, und Ti’Boo sah ein Leben in Knechtschaft vor sich und wies ihn ab. Seitdem hatte es keine Anträge mehr gegeben – und auch keine Möglichkeiten dazu. Denn ihre Mutter war krank geworden, und Ti’Boo hatte sie pflegen müssen.
    Jetzt ging es Ti’Boos Mutter wieder besser, und ihre Schwestern waren älter. Der Witwer Jules Gilbeau, ein Mann mit zwei kleinen Söhnen und genug Land an den Bayous, um ein bisschen Zuckerrohr und etwas Baumwolle anzubauen, wollte Ti’Boo zur Frau nehmen. Und trotz der zehn Jahre Altersunterschied hatte Ti’Boo seinen Antrag angenommen.
    Aurore wusste das alles aus Ti’Boos Briefen. Sie hatte ihre Freundin zuletzt gesehen, als sie selbst elf und Ti’Boo siebzehn gewesen war. Lucien war auf einer seiner vielen Geschäftsreisen und Tante Lydia unterwegs gewesen. Lydia war einige Jahre zuvor in das Haus an der Esplanade Avenue eingezogen, um sich um Aurore zu kümmern.
    Wenn die beiden zu Hause gewesen wären, hätte Ti’Boo wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, sie zu besuchen; das Cajun-Mädchen war schließlich nicht mehr als eine unwillkommene Erinnerung an einen Sommer, den Lucien unbedingt vergessen wollte. Aurore aber hatte das Geheimnis diesesNachmittags mit ihrer Freundin wie einen Schatz gehütet.
    Ti’Boo war seitdem nicht wieder nach New Orleans gekommen, doch nach ihrem gemeinsamen Tag hatten die beiden Mädchen begonnen, sich zu schreiben. Ihre ersten Briefe waren zurückhaltend und höflich gewesen; später wurden sie

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