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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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Geister.
    „Qui est là?“ Étienne hatte sich gerade umgedreht, als die Stimme erklang. Er wandte sich um und sah wieder zum Haus. Ein Mann stand auf der Veranda – kein großer Mann, auch wenn er dem kleinen Jungen damals so vorgekommen war. „Fous le camp! Hau ab!“
    Étienne fragte sich, ob er tun sollte, was der Mann verlangte, ob er einfach gehen und nie mehr zurückkehren sollte. Er spürte, dass seine Zukunft gleichermaßen von den Entscheidungen abhing, die von ihm erwartet wurden, und von denen, die er selbst von sich erwartete. Der Mann kam an den Rand der Veranda und beschattete seine Augen mit der Hand. Er trug eine abgewetzte Hose. Sein Haar, lockig und von silbrigen Strähnen durchzogen, musste dringend geschnitten werden.
    „Sind Sie Auguste Cantrelle?“, fragte Étienne.
    Auguste sprang von der Veranda herunter – die Treppe fehlte. Argwöhnisch näherte er sich Étienne. „Und wenn ich es wäre?“
    „Ich bin von Lafourche hierhergekommen, um dich zu finden.“
    „Ach so? Und warum?“
    „Um dich zur Hölle zu jagen.“
    Auguste blieb einige Meter von ihm entfernt stehen. „Wer bist du?“
    „Weißt du das nicht?“
    „Wer auch immer du bist, verschwinde hier. Ich will keine Gesellschaft.“
    „Nicht einmal die Gesellschaft deines Neffen?“
    Auguste schluckte schwer, als wäre sein Hals mit einem Mal zugeschnürt. Doch als er sprach, klang seine Stimme vollkommen emotionslos. „Ich habe keinen Neffen. Ich bin ein Mann ohne Familie.“
    „Du bist ein Mann, der seiner Familie in diesem Haus Unterschlupf hätte gewähren können. Stattdessen hast du sie sterben lassen.“
    „Ich habe keine Familie! Ich hatte nie Familie. Ich bin ein alleinstehender Mann.“
    „Non, Auguste! Du bist derselbe Mann, der in die Sümpfe gekommen ist und sich über das Bett eines Jungen gebeugt hat, der hohes Fieber hatte. Du bist der Mann, der Faustin und Zelma Terrebonne erzählt hat, dass das Kind Étienne Lafont wäre und du seine Familie nach dem Sturm mit deinen eigenen Händen begraben hättest.“
    Augustes Augen wurden schmal. Er kam näher, aber er bewegte sich langsam, vorsichtig, wie ein Mann in einem Kampf. „Du bist also Étienne Lafont! Oui, ich habe deine Familie beerdigt – alle, bis auf dich. Nur das haben wir gemeinsam. Sonst nichts.“
    Étienne griff nach seinem Messer. Er hielt es in der Hand. Ohne den Blick von Auguste zu wenden, schnitt er sich ungerührt das Handgelenk damit auf. Er konnte spüren, wie das Blut aus der Wunde floss, warm und klebrig auf seiner Haut. Er hob den Arm. „Wir haben das hier gemeinsam, Onkel.“
    „Geh dahin zurück, woher du gekommen bist, Junge! Hier gibt es nichts, hier gibt es niemanden für dich.“
    „Warum hast du den Terrebonnes erzählt, ich sei Étienne? Warst du dir so sicher, dass er nicht an Land gespült werden würde wie ich? Hast du ihn auch begraben, Onkel Auguste?“
    „Du bist Étienne Lafont!“
    „Ich bin Raphael Cantrelle!“ Die Worte lösten etwas in seinem Innern – etwas, das so machtvoll war wie der Hass oder die Liebe, etwas, das so laut in ihm nachhallte, dass er einen Moment lang nicht atmen konnte.
    „Non! Raphael Cantrelle ist in dem Hurrikan umgekommen! Er wurde neben seiner Mutter und seiner Schwester beerdigt. Ich habe ihr Grab mit meinen eigenen Augen gesehen, bevor es zugeschaufelt wurde. Ein Fremder aus New Orleans hat meine Schwester und ihre Kinder begraben. Der Mann, mit dem sich diese Hure vor allen Dorfbewohnern zur Schau gestellt hat!“
    Raphael ging langsam auf ihn zu. Zum ersten Mal seit dem Sturm nahm er sich wieder als Raphael wahr. Und zum erstenMal fühlte er das Blut seiner Mutter und seiner Schwester durch seine Adern fließen, so wie es gerade seinen Arm hinabfloss. „Ich habe Geschichten über dich gehört, Onkel, sogar in Lafourche. Du hast meine Mutter zu einer Hure gemacht, als du meinen Vater getötet hast und sie mit nichts dastand!“
    Auguste wich zurück. „Geh zurück an die Bayous! Du bist Étienne Lafont. Raphael Cantrelle war das Kind einer Hure und ihres Geliebten. Du bist Étienne Lafont, ein Waisenkind aus einer guten Familie. Die Vergangenheit zählt nicht mehr. Vergiss nicht, wer du geworden bist.“
    „Ich bin ein Mann ohne Seele.“ Raphael ging weiter auf ihn zu, das Messer noch immer in der Hand. „Vielleicht haben wir das auch gemeinsam?“
    „Ich will nicht mit dir kämpfen. Ich will dich nicht töten!“ „Non? Es war leicht, meinen Vater zu töten, oder? Und

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