Bis zur letzten Luge
Étiennes Vater zu rächen, weil der ihn beleidigt hat. Faustin ist nicht hier, aber sein Sohn ist es.“
„Woher weißt du das alles?“
Minette sah sie mit großen Augen an. „Ich höre einfach zu.“
Minettes Plan ging genauso auf, wie sie ihn sich ausgemalt hatte. Fünfzehn Minuten später schlich Aurore leise durch den kühlen Abendnebel zu den Stallungen, wo die Pferde und das Maultier untergebracht waren. Die Kuchen, großzügig mit Glasur versehen und mit Pekannüssen belegt, standen sicher versteckt auf einem überdachten Vorsprung des Wassertanks.
Der Hahnenkampf war leicht zu finden. Das flackernde Licht eines Lagerfeuers wies ihnen den Weg. Außerdem waren gedämpfte Rufe und Fluchen zu hören. Minette hatte zugestimmt, so weit vom Kampfgeschehen entfernt zu bleiben, dass sie nicht gesehen werden konnten. Stattdessen wollten sie sich in den Schatten halten, hinter den Weiden, die bei Sonnenschein im Hof Schatten spendeten.
Schweigend gingen sie durch die Dunkelheit, bis sie so nahe am Ort des Geschehens waren, wie sie sich trauten. Aus dieser Entfernung konnten sie die Gesichter der Männer erkennen, die am Feuer standen. Es war eine kleine Gruppe;Aurore kannte die meisten der Männer nicht. Nicht mehr als zehn Männer standen um den mit Sägespänen ausgelegten Ring herum, um den Hähnen beim Kampf zuzusehen. Ihre Haltung war entspannt, und die Rufe klangen gut gelaunt. Hätten die Vögel in der Mitte nicht versucht, sich gegenseitig umzubringen, hätte Aurore es für ein weiteres Beispiel gehalten, wie Cajun-Männer Zeit miteinander verbrachten und Spaß hatten.
Sie entdeckte Étienne am Rand des Ringes. Er stand ein kleines Stückchen von den anderen Männern entfernt. Zwar wirkte er nicht besonders interessiert an dem Spektakel, doch Aurore konnte sich vorstellen, dass er wie die anderen auf den Ausgang des Kampfes gewettet hatte. Sie schluckte, als das Kreischen der Tiere lauter wurde, und schloss die Augen, als einer der Männer nach vorn trat und einen sterbenden Hahn aufhob, den er in die Höhe hielt, damit die anderen ihn sehen konnten.
Es ertönten mehr Jubelrufe als Flüche; offensichtlich hatten die meisten Männer auf den Gewinner getippt. Nur einer der Männer war nicht froh, dass sein Hahn verloren hatte. Er nahm seinen Hut ab und schlug sich damit gegen das Bein. Im Mondschein glänzte sein kahler Kopf wie polierter Marmor, als er vortrat, um dem Mann den toten Hahn abzunehmen und ihn in die Menge zu schleudern.
Der Hahn landete vor Étiennes Füßen.
„Ah, Vic! Hast du immer noch nicht gelernt, ein guter Verlierer zu sein?“, rief Étienne. „Ça c’est malheureux! Du verlierst schließlich ziemlich oft.“
Die Männer verstummten augenblicklich. Aurore schätzte, dass Étienne nur wenige Jahre älter war als sie, aber hier am Bayou Lafourche betrachtete man ihn als Mann. Niemand würde ihm helfen und ihn verteidigen.
„Was machst du denn hier, ’Tienne?“, fragte Vic. Er war ein großer Mann, allerdings nicht so groß wie Étienne. Alser näher kam, fiel sein Schatten auf Étiennes Füße. „Das hier ist ein Sport für Cajuns! Du … du bist in den Sümpfen gefunden worden, wo der loup-garou , der Werwolf, herumschleicht. Und dein Vater ist auch ein loup-garou . Am Tag pflügt er sein Land, und bei Vollmond praktiziert er Voodoo. Wie heute Nacht. Darum ist er nicht hier. Entweder das, oder er hat Angst vor mir!“
Locker stand Étienne vor ihm, als Vic sich siegessicher gegen die Brust schlug. „Mein Vater hat höchstens Angst, dir wehzutun, Vic“, erwiderte er, als Vic fertig war. „Wie beim letzten Mal. Du kannst nicht noch mehr Narben riskieren, oder? Zu viele Narben, und es ist keine richtige Haut mehr übrig, um dich zusammenzuhalten.“
Die Männer lachten. Vics Zorn wuchs sichtlich. „Hast du genauso viel Angst wie dein Vater, ’Tienne?“ Er schleuderte seinen Hut in den Ring, in dem die Hähne zuvor gekämpft hatten. „Ich bin ein Mann. Und du?“ Er zog ein großes Taschentuch hervor und fuchtelte damit vor Étiennes Gesicht herum.
„Grand rond!“, rief einer der Männer.
„Was ist los?“, flüsterte Aurore, als die Männer einen Kreis um Étienne und Vic bildeten. Sie drehte sich um. Minette sah so ehrfurchtsvoll aus wie ein junges Mädchen aus der feinen Gesellschaft beim ersten Besuch in der Oper.
„Das ist der bataille au mouchoir . Beide müssen eine Ecke des Taschentuchs festhalten und kämpfen, bis einer loslässt.“
Als Kind hatte
Weitere Kostenlose Bücher