Bis zur letzten Luge
um und ging davon.
Das Sumpfgebiet, in dem zwölf Jahre zuvor Juans Hütte gestanden hatte, war verlassen. Fächerpalmen und andere Büsche wuchsen in struppigen Gruppen und hatten jeden Hinweisdarauf, ob die Gegend je bewohnt gewesen war, unter sich begraben. Raphael suchte vergeblich nach Juans Brunnen oder dem Unterbau seines Lehmofens. Der Hurrikan hatte alle Orientierungspunkte vernichtet, und auf die Erinnerungen eines siebenjährigen Jungen konnte man kaum vertrauen.
Er hatte Maisbrot und kalten Eintopf mitgebracht. Jetzt machte er es sich am Rande des Sumpfes gemütlich, um zu essen. Schon bald würden die Moskitos kommen, und obwohl er ein Moskitonetz, eine Zeltplane und Decken mitgebracht hatte, wusste er, dass es eine lange Nacht werden würde.
Als die Sterne herauskamen, war er noch immer hellwach. Er hatte ein kleines Feuer entzündet, um sowohl die Geister als auch die Insekten und die Kreaturen des Sumpfes zu vertreiben. Der Wind heulte durch das Gras, das zu drei Seiten hin wuchs, und irgendwo in der Nähe rief ein Alligatormännchen nach einer Gefährtin. Der Sumpf war voll melodiöser Geräusche – dem Quaken von Fröschen, dem Heulen von Käuzchen, dem Rascheln nachtaktiver Raubtiere.
Das Sumpfland lebte, doch die Chénière war tot. Nur ein paar Bauten waren übrig geblieben, und die meisten der tapferen Überlebenden, die ihre Häuser wieder hatten aufbauen wollen, waren schließlich für immer weggezogen. Er hatte den Friedhof besucht. Die Opfer des Hurrikans waren in Massengräbern beigesetzt worden, in einem Boden, in dem das Wasser die Leichen in der Erde umspülte, bis die sterblichen Überreste eines Tages fortgeschwemmt waren. Es hatte keinen Hinweis gegeben, wo seine Mutter und seine Schwester begraben waren. Er hatte auf dem Friedhof gekniet und ein Gebet hervorgestoßen, obwohl er gewusst hatte, dass sie woanders lagen – einfach nur, weil seine Mutter es sich gewünscht hätte. Aber er glaubte nicht, dass Gott seine Stimme gehört hatte.
Jetzt schloss er die Augen. Er sah das Gesicht einer Frau, doch es war nicht das Gesicht seiner Mutter. Die Frau warjünger. Ihr seidiges Haar glänzte wie ein Fuchspelz, und ihre Augen waren von demselben Lavendelblau wie eine Wasserhyazinthe. Sie lächelte zart, als er einschlief. Und es war auch Aurores Gesicht, das er sah, ehe er am Morgen wieder erwachte.
Als die Sonne die Chénière in rosiges Gold tauchte, führte er seine Suche nach Spuren von Juans Hütte fort. Er strich am Rande des Sumpfgebietes entlang. Ihm war klar, dass Flut und Ebbe das ehemalige Festland selbst in Sumpf verwandelt haben konnten. Also zog er schließlich die Stiefel an, die er auch benutzte, wenn er Moos sammelte, und watete durch das Wasser am Ufer.
Beinahe hätte er den Brunnen übersehen. Er war damals ein Stück über dem Boden gebaut worden – ein Aufbau aus Holz, Lehm und Moos. Der Lehm und das Moos waren mit der Zeit zerfallen, aber die verrotteten Balken knirschten unter seinen Stiefeln, als er langsam durchs Wasser lief. Er bückte sich und teilte das Gras. Der Umriss des Brunnens war zu erkennen. Er rechnete im Kopf nach, wo ungefähr sich Juans Häuschen befunden haben musste. Es hatte irgendwo links von ihm gestanden, und dahinter war der Weg zur Erhöhung, der teilweise durchs Wasser führte.
Raphael war inzwischen viel größer, doch das Wasser war tiefer, als er es in Erinnerung hatte. Er überlegte, wo der ehemalige Standort der Hütte sein mochte. Dann blickte er in die Richtung, wo die mit Moos bewachsenen Eichen einst gestanden hatten, und sah den Horizont, an dem beinahe nichts mehr zu sehen war. Nur die Erhöhung, die sich mittlerweile fast auf Wasserhöhe befand, war noch immer zu erkennen. Büsche, die festen Boden für ihre Wurzeln benötigten, schauten über das Riedgras hinweg, und etwas, das aussah wie der zersplitterte Stamm eines Baumes, erhob sich in der Ferne in den Himmel.
Er band sich seine Sachen auf den Rücken und machtesich auf den Weg zur Erhöhung. Seine Stiefel sanken im zähen Schlamm ein, und das Gehen fiel ihm schwer. Noch nie hatte er sich so allein gefühlt. Er kannte die Sümpfe um Faustins Hütte herum. Faustins Häuschen war ein morsches Bauwerk auf Stützpfeilern, das unzähligen Stürmen und Hochwassern widerstanden hatte. Er kannte die Sümpfe und das dazugehörige Marschland, und selbst wenn er Fallen stellte oder allein fischte, konnte er sich sicher sein, dass seine Abwesenheit bemerkt werden würde, wenn
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