Bis zur letzten Luge
er nicht zurückkehrte. Aber niemand würde jemals darauf kommen, dass er hier war.
Angst hatte er keine. Wie konnte ein Mann, der den mörderischen Zorn eines Hurrikans überlebt hatte, Angst haben? Wie konnte er jemals wieder Angst empfinden, wenn das totale Entsetzen einmal jede Zelle seines Körpers erfüllt hatte? Er erinnerte sich an den Moment, als er seine Mutter und seine Schwester verloren hatte, als das Boot in tausend Teile zerborsten war. Er erinnerte sich an den Augenblick, als er nicht länger bei Bewusstsein hatte bleiben können und die Welt um ihn herum in Dunkelheit versunken war.
Weniger deutlich waren die Erinnerungen an den Moment, als er erwacht war und Zelma Terrebonne sich über ihn gebeugt hatte. Zuerst hatte er geglaubt, sie wäre seine Mutter gewesen. Er hatte ihre streichelnde Hand gespürt, kühl auf seiner Stirn. Er hatte den intensiven Duft von Pfefferminzöl wahrgenommen, das benutzt wurde, um Fieber zu bekämpfen, und er hatte die Süße von Honig und Holunderbeeren auf seinen Lippen geschmeckt. Dann hatte er die Augen aufgeschlagen und gewusst, dass seine Mutter tot war.
Er hatte nichts sagen können. Vielleicht hatte er nichts sagen wollen, weil er Angst vor den Antworten auf seine Fragen gehabt hatte. Vielleicht hatte das Fieber seine Zunge anschwellen lassen und langsamer gemacht. Als er das nächste Mal aufgewacht war, hatte Auguste Cantrelle an seinem Bett gestanden und seinen neuen Namen verkündet. Er hatte dieWahrheit gekannt. Er war nicht kräftig genug gewesen, um sich verständlich zu machen, doch sein Verstand war klar gewesen.
Als das Fieber überstanden und er kräftig genug gewesen war, um zu reden, war er Étienne Lafont gewesen. Nicht in seinem Geist; sein wahres Ich hatte er nie vergessen. Aber ä ußerlich war er Étienne gewesen, sein fröhlicher Freund aus Kindertagen mit diesen wachen Augen. Er war kein Kind mehr gewesen und sein Freund nicht mehr am Leben. Doch er hatte die Fassade aufrechterhalten. Ohne den genauen Grund zu kennen, hatte er gewusst, dass es sicherer war, Étienne zu sein. Raphael Cantrelle zu sein, der Sohn einer Frau, die von ihrer eigenen Familie verachtet worden war, vom gesamten Dorf und von ihrem Liebhaber, der im Hurrikan das Seil zum Boot durchtrennt hatte, damit sie starb, war überhaupt nicht sicher.
Der Schlamm umschloss seine Stiefel, aber er ging weiter. Schließlich wurde das Wasser tiefer, und er musste teilweise schwimmen, teilweise waten, um die Erhöhung zu erreichen.
Endlich spürte er festen Boden unter den Füßen und starrte auf den zersplitterten Stamm einer ehemals prächtig gediehenen Zypresse. Es überraschte ihn, dass ein so großer Teil dieses Baumes die Jahre überstanden hatte. Schon vor zwölf Jahren war der Baum tot gewesen.
Es hatten noch zwei weitere Bäume hier gestanden, die jetzt verschwunden waren. Heftige Winde waren in den letzten zwölf Jahren über die Insel gefegt, und jede Sturmflut hatte die Erhöhung wieder überströmt. Es bestand die Möglichkeit, dass er die anderen Bäume nie mehr finden würde. Doch er hatte noch einige Stunden, um nach den Überresten, nach Wurzeln, Zypressenzapfen oder verdächtigen Vertiefungen in der weichen Erde zu suchen. Er nahm sein Bündel ab und entfachte mit Treibholz ein kleines Feuer, um den Fisch zu rösten, den er am Abend zuvor gefangen und ausgenommenhatte. Dann, nach einer Handvoll gedörrter Trauben aus einem verwilderten Weinberg auf der Chénière, machte er sich auf die Suche.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als er schließlich eine Pause machte, um darüber nachzudenken, was er bisher gefunden hatte. Der Baum, der noch immer stand, war wahrscheinlich der mittlere der drei Bäume. Daneben, weit links, hatte Raphael nicht tief unter der Erde ein Wabenmuster aus Wurzeln und Würzelchen entdeckt. An der Stelle war der Boden schwammiger, nachgiebiger, als hätten die kleinen Hohlräume um die Wurzeln herum die Erde aufgelockert.
Auf der anderen Seite des Baumes und weit dahinter hatte er Zypressenzapfen gefunden. Zypressen waren so unempfindlich wie Stein, und die Zapfen konnten theoretisch auch bei Holzfällarbeiten vor hundert Jahren dort liegen geblieben sein. Aber sie waren wichtig, damit er wusste, an welcher Stelle er seinen Weg beginnen sollte.
Er hockte sich auf die Fersen und betrachtete den alten Baumstamm, während die Sonne immer höher stieg. Der Schatten war fast doppelt so lang wie die Reste des Stammes, verzerrt, jedoch klar
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