Bis zur letzten Luge
Seine Söhne waren verheiratet und hatten nicht die Notwendigkeit für ein weiteres Zimmer im Haus ihres Vaters gesehen. Also hatte Nestor schließlich Étienne angeheuert. Er brauchte ein Zimmer, einen Rückzugsort, damit er Ruhe vor der Familie hatte, die noch immer in dem Haus lebte. Ruhe vor seiner geschwätzigen Ehefrau, vor seinem Sohn, der nicht richtig im Kopf war, vor den beiden Töchtern, die noch verheiratet werden mussten. Ein Zimmer, um nachzudenken. Hatte Étienne das verstanden?
Étienne hatte verstanden. Manchmal waren die Gedanken das Einzige, was einem Mann noch blieb.
Das Grundgerüst stand. Der Raum brauchte noch ein Dach, doch Nestor glaubte, dass sein Sohn das schaffen würde. Schindeln auf ein Dach, in Reihen übereinandergelegt – das war eine einfache Aufgabe.
Étienne packte sein Werkzeug ein. Nestor saß im Schatten auf einer Bank auf der Veranda und flickte ein Fischernetz. Wie immer, wenn Étienne jemanden diese leichte Arbeit verrichten sah – eine Arbeit, die er selbst schon oft genug getan hatte –, zog sich sein Innerstes seltsam zusammen.
„Ich bin fertig.“ Er stieg die Stufen hinauf. „Es ist alles geschafft.“
„Sogar schneller, als ich gedacht hätte.“ Nestor wies miteinem knappen Kopfnicken zur Seite. „Das Geld ist in der Dose dahinten.“
Étienne ging in die Ecke und nahm eine Schicht von Angelbleien und den Geldbetrag, auf den sie sich geeinigt hatten, aus der Blechbüchse. Dann legte er die Angelbleie wieder hinein und stellte die Dose auf den Boden zurück. „Woher hast du all das Geld, Nestor?“
„Das Eiergeld meiner Frau. Ich nehme mir hier ein bisschen und da ein bisschen, und sie bemerkt es nicht. Sie ist der Grund dafür, dass ich das Zimmer brauche.“ Étienne streckte die Hand aus, und Nestor erhob sich und ergriff sie. „Gehst du jetzt zurück nach Hause, ’Tienne?“
„Erst fahre ich den Bayou hinunter.“
„Weit?“
„So weit ich komme.“
„Was hast du vor? Dort gibt es nichts mehr.“
„Ich habe früher dort gelebt. Ich komme von der Chénière.“
„Da ist niemand mehr. Niemand außer den Geistern.“ „Vielleicht unterhalte ich mich dann mit den Geistern, um einige Dinge herauszufinden.“
„Du kannst mein Boot nehmen, wenn du möchtest.“ Étienne dachte über das Angebot nach. Er hatte seinen Einbaum, der aus einem einzigen Zypressenstamm geschlagen war. Aber Nestors Boot würde ihn schneller ans Ziel bringen. „Bist du sicher?“, fragte er, bevor er seine Meinung ändern konnte.
„Was soll ich damit? Ich habe jetzt ein eigenes Zimmer. Ich muss nicht mehr aufs Wasser raus, wenn ich keine Lust mehr habe zu reden.“
„Ein Zimmer ohne Decke“, gab Étienne zu bedenken. „Hat es eine Tür und ein Schloss?“, fragte Nestor.
„Ja.“
„Und Fenster?“
„Keine Fenster.“
Nestor setzte sich wieder und nahm das Netz auf. „Wie schon gesagt, ’Tienne – ich habe alles, was ein Mann braucht.“
Die Sonne ging bereits unter, als Étienne sein Ziel endlich erreichte. Die lange Fahrt war selbst für einen Mann, der es gewohnt war, durch die Gewässer des Bayou Lafourche zu steuern, anstrengend gewesen.
Das Haus, das er sich ansehen wollte, war kleiner, als er es in Erinnerung hatte. Einst von großen Eichen umgeben, stand es nun allein. Nur ein verwachsener Busch verbarg den Unterbau der Veranda. Kletterpflanzen rankten an den Fenstern hinauf, wo früher grüne Fensterläden angebracht gewesen waren.
Er erinnerte sich noch gut an die Fensterläden. Er erinnerte sich noch daran, dass sie geschlossen gewesen waren, als er zum letzten Mal versteckt in den Schatten gestanden und zum Haus gestarrt hatte. Es war seltsam, was ihm im Gedächtnis geblieben war. Verdrehte Eichen, grüne Fensterläden und das Gesicht eines Mannes. Ein wütendes Gesicht.
Das Haus schien leer zu stehen. Die Tür hing nur noch an einer Angel. Ein Teil des Daches fehlte; Étienne fragte sich, bei welchem Sturm es abgerissen sein mochte. Bei dem Sturm, der auch seine Familie getötet hatte? Oder war es bei einem der Stürme passiert, die später über die Insel gezogen waren? Bei einem der Stürme, die die Bewohner der Küsten weiter in die Bayous gedrängt hatten? Es war egal. Welcher Sturm auch immer das Haus verwüstet, die Bäume entwurzelt und das Dach abgedeckt hatte, hatte ganze Arbeit geleistet.
Wie auf dem Rest der Chénière und wie im Rest des kargen Landes, das sich ins Wasser erstreckte, wohnten in diesem Haus nur noch
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