Bis zur letzten Luge
Welten, die sie trennten, wollte er sie wiedersehen.
„Ich denke, ich werde jetzt öfter hierherkommen“, erwiderte sie. „Mein Vater hat keine Söhne. Eines Tages wird Gulf Coast mir gehören.“
„Dann müssen wir uns darauf einigen, einander im Auge zu behalten.“
„Ja.“ Sie betrachtete das Gesicht, das sie einst so anziehend gefunden hatte. Ein Jahr später war es sogar noch anziehender – stärker und reifer. „Ja, darauf müssen wir uns einigen.“
„Vielleicht wird das gar nicht so schwierig.“
„Vielleicht nicht.“ Sie vergaß zu lächeln. Sie starrte ihn anund verglich diesen Mann mit den anderen. Sie machte sich nicht vor, dass es je leicht sein würde, Étienne Terrebonne zu kennen. Aber sie dachte, dass diese Bekanntschaft alle Schwierigkeiten, die daraus entstehen mochten, vielleicht auch wert war.
Schließlich wandte er sich ab. „Ich werde Ihnen etwas über die Anlegeplätze erzählen. Bevor die Hafenbehörde die Leitung übernahm, wurden die Kais privat verwaltet. Ursprünglich waren die Gebäude entlang des Flussufers aus Holz, doch inzwischen sind sie aus Metall. Hier können zwei Dampfschiffe anlegen. Mit Erlaubnis kann am nächsten Kai noch ein weiteres Schiff andocken. Wenn die Danish Dowager vom Stapel gelassen wird, hat sie auch Platz an unserem Anleger.“
„Ich kann es kaum erwarten!“
Sein Blick war beifällig. „Wir sind mit elektrisch angetriebenen Förderbändern mit Motoren mit fünfzehn PS ausgestattet. Sie sind mit Hub- und Senkgeräten ausgerüstet worden, um sich dem Wasserstand des Flusses anzupassen …“
Sie ging neben ihm her und lauschte interessiert. Aber das Interessanteste waren die Dinge, die bereits gesagt worden waren.
Es gab Tage in diesem Sommer, an denen Lucien sich sicher war, dass jeder Atemzug der letzte war. Die Hitze nahm nicht ab. Sie versengte seine Lunge und hielt sein Herz im Klammergriff. Er schlief im Sitzen – wenn er überhaupt Schlaf fand – in einem Sessel neben seinem Schlafzimmerfenster. Im Schein einer Lampe schrieb er Briefe an Pater Grimaud.
Morgens ging er ins Büro, doch er hielt es selten länger als bis zum Mittag aus. Die Hitze schien am Fluss noch schlimmer zu sein, so als hielte der Mississippi die höchsten Temperaturen in seinen unergründlichen Tiefen gefangen. Er mied den Pickwick Club, der vorher sein Zufluchtsort gewesenwar, denn er fürchtete, dass Gerüchte in die Welt gesetzt werden könnten, weil er immer magerer wurde. Manchmal legte er die nötigen Meter zum Anleger zurück, wo die Innenausstattung der Danish Dowager vorgenommen wurde, aber an den meisten Nachmittagen entschuldigte er sich einfach und ging nach Hause.
Im Oktober waren die Temperaturen dann endlich so weit gesunken, dass Lucien ein wenig Erleichterung verspürte. Doch der Sommer hatte sein Interesse an Gulf Coast ausgelaugt. Seine Dampfschiffe liefen unentwegt in den Hafen ein und wieder aus, brachten Bananen aus Costa Rica und Kaffee aus Brasilien, transportierten Baumwolle nach Italien, Holzprodukte nach Frankreich und Getreide nach England. Das Laden und Entladen ging inzwischen leichter und viel wirtschaftlicher, aber der Schiffsverkehr auf dem Fluss war immer noch nicht so rege, wie er es sich gewünscht hätte.
Zumindest hatte er gute Angestellte, die daran arbeiteten, die Einnahme von Gulf Coast zu steigern. Auf Karl, seinen Sekretär, konnte man vertrauen, wenn Lucien einmal nicht im Büro war. Er vertrat dann in Luciens Sinn die Interessen des Unternehmens. Sein Betriebsleiter Tim Gilhooley war ein altgedienter Berufsboxer, der den Höhepunkt seiner Karriere im letzten Jahrhundert erlebt hatte – zusammen mit der Begeisterung der Stadt für diesen Sport. Er konnte allerdings noch immer einen Hals brechen, wenn es sein musste, oder einem Mann, der etwas einfühlsamer behandelt werden musste, eine Flasche von Kentuckys feinstem Bourbon zustecken.
Dann gab es noch Étienne Terrebonne. Étienne hatte Lucien von Anfang an beeindruckt. Er war offensichtlich ein wohlerzogener Mann, auch wenn er vom Bayou Lafourche stammte. Seine Haut war zu dunkel, seine Herkunft zu augenscheinlich lateinamerikanisch, doch er kleidete sich anständig und war gebildet. Und was am wichtigsten war: Er scheute keine harte Arbeit.
Manchmal wirkte Étienne fast wie ein Besessener. In den paar Monaten, die er für die Firma arbeitete, hatte er mehr über das Reedereigeschäft gelernt als die meisten der anderen Mitarbeiter im Laufe vieler Jahre.
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