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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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zwanzigsten Jahrhundert,untergraben. Dennoch blieben sie unter sich und vermischten sich nur so selten wie möglich mit Schwarzen oder Weißen.
    Diese attraktiven, kultivierten Menschen erkannten Étiennes Wurzeln auf einen Blick. Sie waren sensibilisiert für die Breite der Lippen und den Schwung der Nase, wie sie für die Beleidigungen sensibilisiert waren, die sie sich jeden Tag anhören mussten. Sie verstanden, warum ein farbiger Mann sich entschloss, als Weißer zu leben, wenn er irgendwie als solcher durchging. Viele ihrer Brüder und Schwestern hatten diese Entscheidung getroffen. Sie verloren kein Wort darüber, wenn sie mit ihm zu tun hatten, aber er sah ihnen an, was sie dachten. Wenn sie seine Abstammung kannten, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch andere misstrauisch werden würden. Étienne spielte ein gefährliches Spiel.
    Doch niemand hatte eine Ahnung, wie gefährlich. Étienne starrte aus dem Fenster, bis Luciens Kutsche verschwunden war. Vor Jahren war der Hass zum einzigen Sinn von Étiennes Dasein geworden. Nachdem er Lucien Le Danois nun tatsächlich gegenüberstehen konnte, schlug sein Herz jedes Mal heftiger, und sein Atem ging schneller. Manchmal zitterten seine Hände, und er musste fürchten, dass seine Stimme oder seine Miene ihn verrieten.
    Er erinnerte sich an ihr erstes Aufeinandertreffen vor einem Jahr. Er hatte Angst gehabt, dass Lucien ihn wiedererkennen würde – Angst, aber auch Hoffnung. Wenn Lucien ihn erkannt hätte, dann hätte Étienne zwar unvorbereitet, jedoch direkt Rache üben können. Doch es hatte nicht einmal die Spur eines Wiedererkennens gegeben. Lucien hatte das Kind, das er in den Hurrikan geschickt hatte, um dort zu sterben, so aus seinem Gedächtnis gestrichen, dass er Raphael in diesem Fremden nicht gesehen hatte. Lucien wurde nicht von Unsicherheit gequält. Er wurde nicht von Schuldgefühlen geplagt. Und er hegte auch nicht den Verdacht, dass er von einem Geist verfolgt werden könnte, der ihm eines Tages allesnehmen würde, was ihm lieb und teuer war.
    Hinter ihm erklang ein Geräusch. Étienne sammelte sich, ehe er sich umdrehte. Aurore kam auf ihn zu und streckte die Hand aus. „Er ist weg, nicht wahr? Ich habe die Kutsche gesehen und mich in einem Eingang versteckt. Ich dachte, er wäre schon längst gegangen.“
    „Andere sind aber noch da.“ Er ergriff ihre Hand.
    „Ich werde ihnen sagen, dass ich hier bin, um meinen Vater zu treffen, und dass ich traurig bin, ihn verpasst zu haben.“
    „Wenn du darauf bestehst, dich mit mir zu treffen, müssen wir einen besseren Ort finden.“
    „Wenn ich darauf bestehe?“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren so blau wie das Stückchen Himmel, das man durch Luciens Fenster sehen konnte. „Warst du nicht derjenige, der gemeint hat, es könnte mir gefallen, heute Abend einen Ausflug aufs Land zu machen?“
    „Wie schleichst du dich immer davon, Aurore? Vermisst man dich nicht, wenn du dich mit mir triffst?“
    Sie kam näher. „Vermisst man mich, wenn ich es nicht zu unseren Treffen schaffe?“
    In den Monaten, in denen er sich heimlich mit Aurore getroffen hatte, hatte Étienne in ihr etwas von ihrem Vater gesucht. Doch die junge Frau, die ihn voller Verlangen ansah, schien unbeschadet von ihrer Abstammung zu sein. Sie war so aufrichtig warmherzig, wie ihr Vater kaltherzig war. „Ja“, sagte er. Er streckte die Hand aus und strich mit der Rückseite seiner Finger über ihre Wange.
    „Ich lüge.“ Ihre Augenlider senkten sich. „Ich lüge, und ich gebe Cleo Geschenke, damit sie gar nicht genau wissen will, ob ich die Wahrheit sage. Und ich habe Freunde, die für mich schwindeln. Sie halten unsere Verabredungen für wundervoll romantisch.“
    „Und was denkst du?“
    „Ich denke, sie könnten noch romantischer sein.“
    Er betrachtete sie mit noch mehr Aufmerksamkeit. Die Nachmittagssonne ließ ihren Teint in der Farbe von Perlen schimmern. Sie war wie ein Mädchen und doch wie eine Frau. Er beugte sich herunter und strich mit den Lippen sanft über ihre. Er spürte, wie sie erschauerte, und zog sie an sich. Dieses Mal erforschte er ihren Mund. Sie schmiegte sich an ihn wie eine Frau, und ihre zarten Brüste drängten gegen ihr Korsett und seinen Oberkörper. Die Hitze ihrer Körper durchdrang den Raum zwischen ihnen, bis es nur noch das Rauschen des Blutes gab und Atem, der sich mit Atem vermischte.
    „Étienne.“ Sie löste sich als Erste, verwirrt und offensichtlich unsicher. Sie schlug die

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