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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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Dampfschifffahrtsgesellschaft, eine gute Entscheidung gewesen war. Doch seine fortschrittliche Einstellung hatte dazu geführt, dass die Betriebseinnahmen gerade überlebenswichtig waren. Im Augenblick entschied jeder Cent über Fortbestehen oder Bankrott von Gulf Coast.
    Er beschloss, ein Risiko einzugehen. „Lassen Sie Tim das Angebot von Jacelle and Sons prüfen. Dann reden wir noch einmal.“
    „Ja, Sir.“
    „Arbeiten Sie gern hier, Étienne?“
    „Sehr gern.“
    „Bleibt Ihnen eigentlich noch Zeit für ein Privatleben? Ich möchte nicht, dass Sie sich überarbeiten. Es muss unzählige junge Frauen geben, die Ihnen nur allzu gern die Vergnügungsviertel der Stadt zeigen würden.“
    „Ich werde es nicht vergessen, Sir.“
    Étienne lächelte, und Lucien las all die lässige Selbstsicherheit der Jugend in seinen Zügen. Das Lächeln erwecktein Lucien das Gefühl, alt und dem Tode nahe zu sein. Er beneidete Étienne um die Jahre, die noch vor ihm lagen. „Vermissen Sie Ihr Zuhause manchmal? Ich weiß, dass Sie erzählt haben, Ihre Familie wäre tot, aber wünschten Sie sich nicht ab und zu, zurückkehren zu können?“
    „Ja.“ Étienne lächelte nicht mehr. „Aber als Junge habe ich diesen Tag herbeigesehnt. Jetzt bin ich entschlossen, das Beste daraus zu machen.“
    „Also waren Sie schon immer ehrgeizig.“ Lucien zog sich die Handschuhe an. „Gewöhnlich habe ich die Cajuns als genügsames Volk erlebt. Warum sind Sie so anders?“
    „Anders? Oder bedauernswert? Wer weiß schon, ob die Hingabe, meine Ziele zu erreichen, mich nicht irgendwann zerstören wird?“
    „Ich war auch mal anders.“ Lucien wusste nicht, warum ihm plötzlich daran lag, seine Geschichte mit Étienne zu teilen. Doch es war etwas Fesselndes, Verlockendes an der kaum verhohlenen Lebenskraft des jungen Mannes, an der Intensität, die in seinen dunklen Augen stand.
    „Wie das?“
    „Wie viele Familien haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen?“ Er wartete die Antwort nicht ab. Beide Männer wussten, dass die altehrwürdigen Namen von New Orleans eine aussterbende Rasse waren. „Und wissen Sie, warum?“, fuhr er fort. „Weil sie nicht an Arbeit glaubten. Sogar für meinen Schwiegervater, Antoine Friloux, war Arbeit nicht mehr als ein notwendiges Übel. Der Krieg hat die meisten Familien zerstört. Sie wussten nicht, wie sie aus dem wenigen, das ihnen noch geblieben war, etwas machen sollten. Aber ich habe es getan. Und jetzt herrsche ich über ein Imperium, weil harte Arbeit mich nicht abgeschreckt hat.“
    „Ein Beispiel, dem man folgen sollte“, sagte Étienne.
    „Sie sind noch so jung!“ Lucien erlaubte sich ein Seufzen.
    „Sie haben noch so vieles zu lernen. Ich habe immer gehofft,einen Sohn zu haben, um ihm all das beizubringen.“
    Étienne erwiderte nichts. Offensichtlich respektierte er diesen unerfüllten Wunsch.
    „Bleiben Sie nicht den ganzen Abend hier“, verabschiedete sich Lucien. „Gehen Sie nach Hause, und essen Sie was Gutes. Wir sehen uns dann morgen.“
    „Danke, Sir.“
    Lucien nickte ihm zum Abschied zu. In der Kutsche schloss er die Augen. Das friedvolle Klappern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster klang so beruhigend, dass er schließlich einnickte.
    Étienne beobachtete, wie Luciens Kutsche sich durch den Verkehr am Flussufer schlängelte. Sein Fahrer war ein älterer Schwarzer, der schon vor Aurores Geburt zur Familie gekommen war. Aurore hatte Étienne erzählt, dass sie den alten Mann – sein Name war Fantome – sehr gernhatte. Er hatte öfter hilfsbereit für sie geschwindelt, wenn sie ihrem Vater nicht gehorcht hatte. Étienne wusste nicht, woher der Name kam oder ob er irgendeinen Bezug zu dem Geburtsnamen des Mannes hatte, doch Fantome war in der Tat ein Phantom. Er existierte im Schatten von Lucien und Aurores Leben – ein großer, förmlicher, zurückhaltender Geist, der Étienne mit wissendem Blick ansah.
    Étienne hatte dasselbe Wissen in den Augen der farbigen Kreolen gesehen, die im French Quarter wohnten. Die gens de couleur libres waren eine Klasse für sich. Schon hundert Jahre vor der Emanzipations-Proklamation 1862, in der die Regierung Abraham Lincolns die Abschaffung der Sklaverei erklärte, waren sie frei gewesen. Einige von ihnen hatten selbst Sklaven gehalten und große Ländereien besessen. Der Krieg hatte ihre Lage nicht verbessert. Nachdem sie früher ein angesehener Teil der Gesellschaft gewesen waren, waren ihre Rechte und Privilegien nun, im

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