Bis zur letzten Luge
eindämmen. Das Flussufer gehörte zwar nicht zum Rotlichtviertel, aber der Fluss zog seine eigene Art von Sündern an. Unter den Anlegern hielten sich sogenannte „Ratten“ auf, Diebe, die durch die Ritzen zwischen den Planken des Anlegers hindurch Säcke aufschlitzten und fein säuberlich entleerten.
Ein Mann tauchte auf. Er hob sich eindrucksvoll gegen den Winterhimmel ab. „Étienne.“ Erleichtert ging sie auf ihn zu. „Ich bin so froh, dass du es bist.“
„Warum hast du nicht in der Kutsche gewartet?“
„Ich hatte Angst, dich zu verpassen.“
„Du hättest mich vielleicht nie mehr getroffen, wenn jemand anders hier entlanggekommen wäre.“ Er trat zu ihr indie Schatten. So selbstverständlich wie in den vergangenen Monaten schmiegte sie sich an ihn.
Seine Lippen auf ihrem Mund fühlten sich warm und vertraut an. Doch die Vertrautheit war genauso aufregend, wie es zu Beginn die Neugierde gewesen war. Jetzt konnte sie jeden Kuss erwarten und wusste genau, wie sich seine Lippen anfühlen würden.
Sie lebte für diese gestohlenen Momente, Momente, die immer gefährlicher wurden. Bereits zwei Mal schon, nachdem sie den Nachmittag mit Étienne verbracht hatte, hatte Lucien wissen wollen, wo sie gewesen sei. Er war inzwischen öfter zu Hause, und es wirkte beinahe, als wäre sein Misstrauen geweckt. Wenn er mit ihr zusammen war, ermunterte er sie, ihm von ihrem Tag zu erzählen, und lauschte ihren Antworten sehr genau.
Früher hätte Luciens Aufmerksamkeit ihr alles bedeutet. Jede Minute, die er mit ihr verbracht hatte, war der Mittelpunkt gewesen, um den ihre Welt sich gedreht hatte. Jetzt verstärkte sein Interesse an ihr ihre Schuldgefühle nur noch. Es war schwieriger, ihn zu hintergehen, wenn er so ehrlich besorgt um ihr Wohlergehen schien.
Es war vielleicht schwieriger, aber notwendig. Denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen Mann getroffen, dessen Aufmerksamkeit ihr noch wichtiger war.
Étienne zog sich ein bisschen zurück, um ihr Gesicht sehen zu können. „Bist du bereit, an Bord zu gehen?“
„Bist du dir sicher, dass uns niemand folgen wird?“
„Ich habe Vorkehrungen getroffen. Niemand wird uns belästigen.“
Sie hakte sich bei ihm unter.
Der Wachmann des Schiffes erschien an Deck, als sie sich dem Schiff näherten; ohne ein Wort ließ er eine provisorische Gangway herunter. Sie gingen an Bord, und der Mann tippte kurz an seinen Hut, ehe er das Schiff verließ. Étienne zog denSteg wieder herauf, und sie waren allein.
„Bis um zehn Uhr haben wir das ganze Schiff für uns“, erklärte Étienne. „Dann kommt er zurück.“
„Für uns.“ Ihr gefiel der Klang dieser Worte.
„Was sollen wir zuerst machen? Sollen wir zu Abend essen? Tanzen? Einen Rundgang machen?“
Sie war gekommen, um sich das Schiff anzusehen. Da sie die einzigen Menschen an Bord waren, fielen die anderen Möglichkeiten vermutlich sowieso aus. „Einen Rundgang.“ Sie drehte sich im Kreis, und ihr Umhang wehte um sie herum. „Auf jeden Fall möchte ich einen Rundgang machen.“
Er reichte ihr den Arm. Sie hakte sich unter und schmiegte sich an Étienne, um Schutz vor dem kalten Wind zu suchen. „Wo fangen wir an?“, fragte sie.
„Wir werden uns zuerst mal eine Lampe besorgen. Solange das Schiff im Dock ist, gibt es keinen Strom.“ Sie gingen über das Deck. Aurore malte sich aus, wie es mit Liegestühlen und den bunten Kleidern der Passagiere aussehen würde. Erst kürzlich war das Holz lackiert worden. Der Duft der Versiegelung hing noch in der Luft und verlieh ihr zusätzlich eine angenehme Note.
Étienne fand eine Lampe und entzündete sie. „Lass uns auf dem Bootsdeck beginnen, solange die Sonne noch nicht untergegangen ist.“ Er führte sie eine Treppe mit einem Messinggeländer hinauf. Es quietschte, als Aurore mit den Händen darüberglitt. Oben angekommen, beobachtete er, wie sie zur Reling rannte, um auf den Fluss hinauszublicken.
„Sieh nur, da fährt ein Schlepper vorbei!“
Er trat neben sie. „Dein Vater hat an nichts gespart. Das Deck wird mit einem Dutzend Rettungsbooten ausgestattet.“
„Warum? Die Dowager wird nicht sinken. Ich weiß, dass Schiffe sinken – doch kein Schiff wie dieses. Mit diesen Schiffen ist ein neues Zeitalter angebrochen.“
„Du vergisst die höhere Gewalt.“
Aurore beschloss, nicht an die höhere Gewalt zu denken, die sie und Étienne als Kinder erlebt hatten. „Die Zeitungen berichten seit dem Frühling nur noch vom Vesuv und dem
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