Bis zur letzten Luge
Erdbeben in San Francisco. Aber das ist an Land passiert, und das hier ist Wasser. Wie sollte ein Schiff, das so perfekt ist wie dieses hier, untergehen können? Ich weigere mich, das zu glauben.“
„Dein Vater sagt das Gleiche, doch selbst er sieht ein, wie wichtig Rettungsboote sind.“
„Mein Vater hat Vertrauen in seine Schiffe, weil er sie nach seinen Angaben bauen kann. Er denkt, wenn er ein Vermögen investiert, kann er alles so machen, wie es ihm passt. Aber er hat kein Vertrauen in den Fluss oder den Golf, weil nichts, was er tun könnte, sie zähmen kann.“
„Eads hat den Fluss gezähmt, als er die South-Pass- Molen gebaut hat.“
Bis 1874 war es größeren Schiffen nicht möglich gewesen, durch die enge Mündung des Mississippi zu fahren. James Buchanan Eads, ein bemerkenswert talentierter Ingenieur, war sich so sicher gewesen, die Strömung des Flusses nutzen zu können, um die Fahrrinne zu vertiefen, dass er eingewilligt hatte, die Kosten selbst zu tragen, falls sein Plan nicht funktioniert hätte.
„Eads hat den Fluss nicht gezähmt“, sagte Aurore. „Er ist auf ihre Launen eingegangen. Im Gegenzug erlaubt sie es uns nun, durch ihre Mündung in den Golf zu gelangen. Es ist ein Gefallen, den sie uns tut.“
„Sie?“
Sie nickte, und ihre weichen Locken hüpften auf und ab. „Natürlich. Der Fluss ist weiblich.“
„Am Flussufer nennt man den Mississippi den ‚Old Man River‘.“
Sie drehte sich mit dem Rücken zum Wasser und lehnte sich an die Reling, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. „Eine Frau schenkt Leben.“Er hob eine Augenbraue. „Ein Mann hat auch seinen Anteil daran.“
„Die meisten Männer scheinen das gern zu vergessen. Wie dem auch sei – eine Frau ernährt das Kind und pflegt es, genau wie der Fluss uns nährt und pflegt. Sie reagiert auf die Jahreszeiten, die Mondphasen, steigt und fällt und trägt immer das Geschenk des Lebens mit sich. Wie kann der Fluss etwas anderes sein als weiblich?“
„Der Fluss kann aber auch alles überfluten und zerstören, was sich ihm in den Weg stellt.“
„Eine Frau ist auch dazu fähig.“
„Der Mann ist der Zerstörer.“
„Wenn es sein muss, ist die Frau genauso mächtig, genauso gebieterisch wie dieser Fluss.“
Seine Miene war unergründlich. „Woher willst du das wissen? Was hast du je zerstören müssen, weil du dazu gezwungen warst?“
„Es ist ein Fehler, zu glauben, dass die Gefühle einer Frau weniger stark sind als die eines Mannes, Étienne.“
„All ihre Gefühle?“ Er berührte ihre Wange.
Sie konnte jede einzelne Fingerspitze auf ihrer Haut spüren.
Wenn Étienne sie berührte, fühlte sie sich, als wäre sie vollständig, als wäre ihr etwas, das ihr immer gefehlt hatte, zurückgegeben worden. Sie schloss die Augen und küsste seine Handfläche. „Alle“, flüsterte sie.
Hand in Hand mit ihr zeigte er ihr die Brücke, die mit der modernsten Technik ausgestattet war, und die Unterkünfte der Crew. Sie blickten durch Oberlichter aus Buntglas in das Raucherzimmer und den Salon. Als die Sonne am Horizont versank, gingen sie zum Promenadendeck und spazierten versonnen einmal um das Schiff herum.
Das Raucherzimmer war luxuriös, mit einer kunstvoll geschnitzten Vertäfelung aus Walnussholz, burgunderroter Auslegeware und gemütlichen Ledersesseln. Tische standen bereit, umdaran Domino oder ein Kartenspiel zu spielen, und eine Bar erstreckte sich entlang einer Seite des Raumes, damit den Herren sämtliche Wünsche erfüllt werden konnten. Neben dem Salon, in der Mitte des Decks, befand sich ein kleines Schreibzimmer für die Damen. Vergoldete Spiegel hingen an den Wänden, und herrlich verzierter Stuck schmückte die Decke.
„Wenn ich auf diesem Schiff reisen würde, dann würde ich jeden Tag hierherkommen und dir einen sehr, sehr traurigen Brief schreiben“, sagte sie und fuhr mit der behandschuhten Fingerspitze über die Oberfläche eines Queen-Anne-Sekretärs.
„Wie kommst du darauf, dass ich dich allein an Bord gehen lassen würde?“
Ihre Stimme wurde weicher. „Würdest du das nicht zulassen?“
Er trat näher zu ihr. „Und dulden, dass du so weit von mir entfernt bist? Ein Brief würde nicht reichen, Aurore. Nicht einmal ein sehr, sehr trauriger Brief.“
Sie wagte es nicht, zu glauben, was sie in seinen Augen las. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nach Liebe gesehnt – selbst als sie sich daran gewöhnt hatte, ohne Liebe zu leben. Jetzt konnte sie an nichts anderes mehr
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