Bis zur letzten Luge
sich Gedanken an Lucien in seinen Kopf, Gedanken daran, was Lucien sagen würde.
„Ich möchte nicht, dass du deinem Vater von uns erzählst“, bat er, die Wange an ihr Haar geschmiegt. „Er wird versuchen, uns aufzuhalten. Wir werden einen Ort und eine Zeit vereinbaren, um uns zu treffen. Ich werde Fahrkarten für den Zug besorgen. Wir werden Louisiana verlassen und nie mehr zurückblicken.“
Sie sah ihn an. Er las Trauer und Hoffnung in ihren Augen. Aber als er sie küsste, verschwand die Trauer.
16. KAPITEL
A n Lundi Gras, dem Tag vor Mardi Gras, kam der König des Karnevals mit seiner majestätischen Jacht am Flussufer an, verkleidet als französischer Monarch aus glücklicheren Tagen. Mit einer Parade zog er von dort zur Gallier Hall. Menschenmassen bevölkerten die Straßen, um dem König des Karnevals in seiner weiß-goldenen Kutsche zuzujubeln. Die Stadt pulsierte vor Begeisterung, während Mardi Gras immer näher rückte. Am Abend, als die Proteus-Parade anfangen sollte, durchströmte freudige Aufregung die gesamte Stadt – von den prunkvollen Herrenhäusern an der Saint Charles Avenue bis hin zu den überfüllten Hütten in Freetown im Bezirk Algiers.
Bis eine Stunde ehe Proteus erscheinen sollte, bereiteten Mütter Körbe voller Essen zu. Sie würden sie mit Freunden teilen, die an der Strecke wohnten, die die Parade am Dienstag nehmen würde. Kinder arbeiteten fieberhaft Kostüme um, nähten Bänder und kleine Silberglöckchen an günstigen Batiststoff und Baumwollsatin. Dann strömte eine Flut von Menschen überall in der Stadt aus den Häusern und machte sich auf den Weg in die Canal Street.
Aurore bahnte sich gegen den Strom einen Weg zwischen den gut gelaunten Menschen hindurch. Auf den Straßen vermischten sich die lauten Hupen der Autos mit dem Wiehern von Pferden. An einer Ecke schwenkte ein kleiner Junge die Extraausgabe einer Zeitung zu Karneval durch die Luft und bat um zehn Cent. Zwar brauchte sie es nicht, doch sie kaufte ein Blatt, um so die Verkäufer an den anderen Straßenecken auf Abstand zu halten. Sie war auf halber Strecke zum Flussufer, als ihr auffiel, dass sie eine letzte bunte Erinnerung an ihr Leben in New Orleans in der Hand hielt. Irgendwann würde sie die wundervollen Bilder jedes Wagens in der Proteus-Parade betrachten und sich wünschen, wieder zu Hause zu sein.
Aber nun war ihr Zuhause dort, wo auch immer Étienne es für sie geplant hatte. Aus Angst, dass ihr Vater die Wahrheit herausfinden könnte, noch ehe sie in Sicherheit waren, hatte sie nicht nach ihrem Ziel gefragt. Sie war bereit, Lucien den Rücken zu kehren, doch sie wollte nicht lügen.
Je näher sie dem Fluss kam, desto weniger Menschen waren unterwegs. In der Ferne hörte sie eine Blaskapelle spielen. Als sie am Fluss ankam, war die Musik nicht mehr zu hören.
Der Karneval, in dem man den gesellschaftlichen Status so gnadenlos wichtig nahm und in dem vor allem der Blick auf die vergänglichsten menschlichen Werte zählte, würde ihr nicht fehlen. Sie hatte den Karneval auf den Straßen nie erlebt. Sie hatte sich nie nach vorn drängeln müssen, um einen guten Platz an der Strecke zu haben, die die Parade nahm. Sie hatte nie ein freches selbst gestaltetes und genähtes Kostüm getragen. Sie konnte etwas, das sie nicht kannte, nicht vermissen.
Der Fluss war etwas anderes. Als sie ans Ufer eilte, konnte sie seinen geheimnisvollen Duft wahrnehmen. Gerüche vermischten sich zu einer Essenz, so stark wie der Nebel, der in den dunkler werdenden Himmel aufstieg. In Erwartung des Frühlings war der Fluss voller und floss schneller. Tränen brannten in ihren Augen. Sie bedauerte es nicht, New Orleans zu verlassen, denn sie ging mit Étienne zusammen. Aber sie hoffte, dass sie eines Tages, an irgendeinem Ort, den Fluss wiedertreffen würde.
Sie hastete weiter, denn es war schon spät. Sie sollte Étienne an diesem Abend am Bahnhof treffen. Sie hatten diesen Abend gewählt, weil ihr Vater mit der Parade und dem anschließenden Ball beschäftigt sein würde. Es würde eine ganze Zeit dauern, bis Lucien auffallen würde, dass seine Tochter nicht in der Ehrenloge saß, in der die jungen Frauen sich aufhielten, die zum Tanz aufgerufen wurden. Zu dem Zeitpunkt wäre Aurore bereits weg. Doch zuerst musste sie sich noch von einer Person verabschieden.
Als sie sich dem Wasser näherte, ermahnte sie sich, nicht enttäuscht zu sein. Sie hatte versucht, Ti’Boo mitzuteilen, dass sie New Orleans verlassen würde. Sie
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