Bis zur letzten Luge
Orleans hinter sich lassen musste. Aber die Furcht, alles zu verlieren, hatte sie überwältigt. Sie wollte ihn nicht mehr. Er schluckte.
Als hätte sie seine Unsicherheit erkannt, schüttelte sie heftig den Kopf. „Nein, Étienne. Ich liebe dich noch immer.“ Sie ergriff seine Hand. „Mehr als je zuvor. Ich habe Angst …“
„Wovor?“, fragte er. „Um Himmels willen, Aurore! Sag es mir!“
„Ich bekomme ein Kind von dir.“
Diese Möglichkeit war ihm nicht in den Sinn gekommen.
Als sie sich auf der Dowager geliebt hatten, war ihm noch nicht klar gewesen, dass es kein Akt der Rache war, ihr die Jungfräulichkeit zu nehmen, sondern Liebe. Vielleicht hatte er kurz mit dem Gedanken gespielt, sie zu schwängern. Vielleicht hatte er sich den Ausdruck auf Luciens Gesicht vorgestellt, wenn er erfahren hätte, dass Raphael Cantrelle seiner einzigen Tochter ein Kind gemacht hätte – ein Kind mit unreinem Blut. Doch es war nur ein kurzer, flüchtiger Gedanke gewesen, falls er ihn überhaupt je gehabt hatte.
Und dieser Gedanke war ihm auch nie wieder gekommen. Nicht bis zu diesem Moment. „Ein Baby.“ Er spürte, wie sie den Griff um seine Finger verstärkte. Er nahm ihre Hände und führte sie an seine Lippen. „Bist du dir sicher?“
„So sicher, wie sich eine Frau sein kann, solange sie noch nicht beim Arzt war.“
„Geht es dir gut?“
„Nein!“ Sie wandte den Blick ab. „Ich habe Angst, Étienne. Was soll jetzt werden?“
Ein großes Finale. Das Ende eines Dramas. Er schloss die Augen und beschwor Luciens Gesicht in sich herauf. Lucien, der genauso blass, genauso gequält war wie seine Tochter.
Er öffnete die Augen wieder. „Das ist eine leicht zu beantwortende Frage: Wir werden heiraten. Und wir werden wegziehen, nach New York oder an die Großen Seen. Wir werden uns ein Zuhause aufbauen und ein gemeinsames Leben, und wir werden nie mehr zurückblicken.“
„Ein Zuhause und ein gemeinsames Leben.“ Ihre Stimme zitterte. „Bist du dir sicher?“
„Wie kannst du etwas anderes annehmen?“
„Ich werde nichts mitbringen dürfen außer unserem Kind und den Kleidern, die ich am Leibe trage.“
Das war Luciens Werk. Er sah es so klar und deutlich vor sich, wie er es in der Nacht gesehen hatte, als ein kleines Boot von der rettenden Leine geschnitten worden war, um mitten in den Sturm zu geraten. Sie glaubte, dass sie wertlos war, so wie es ihr sehr beharrlich beigebracht worden war. „Du wirst alles Wichtige mitbringen. Du wirst selbst kommen. Mehr will ich gar nicht.“
„Oh Étienne.“ Eine Träne rann ihr über die Wange. „Ich kann arbeiten gehen, um uns den Start zu erleichtern. Es gibt nicht vieles, was ich kann, aber mein Französisch ist perfekt. Ich könnte junge Damen unterrichten …“
Er legte ihr den Finger auf die Lippen. „Still! Du musst dir keine Sorgen machen. Wir werden nicht arm sein. Wir werden alles andere als das sein. Ich habe dir gesagt, dass ich etwas von meinem Vater geerbt habe, doch ich habe dir nie genau verraten, was es ist.“
„Das musst du auch nicht. Es geht mich nichts an.“
„Bald wird es dich etwas angehen. Wir sollten so schnell wie möglich heiraten.“ Er erhob sich. „Warte hier.“
Sie saß unverändert auf dem Sofa, als er zurückkehrte. Nach außen hin wirkte sie verloren und voller Angst, aber diese Angst war nur eine dünne Schicht. Sie war eine Frau, die diese Prüfung – wie auch jede andere, die ihr auferlegt werden würde – überstehen würde. Hinter den geschminkten Augenverbarg sich eine Frau mit einem großen Durchhaltevermögen.
Er nahm neben ihr Platz und stellte eine Holzkiste auf ihren Schoß, obwohl er wusste, dass das Gewicht der Box unangenehm drücken würde. „Bevor du die Kiste öffnest, solltest du wissen, dass du Träume sehen wirst.“
Mit der Hand strich sie behutsam über das glänzende Holz. „Träume?“
„Die Träume eines Jungen, eines jungen Mannes.“ Er beobachtete, wie sie über das Holz fuhr. „Und die eines alten Mannes.“
„Deines Vaters?“
Er hatte an Juan gedacht. Doch jetzt dachte er an den Mann, den Sohn einer Sklavin, dem er nie begegnet war. „Ich bin sicher, dass mein Vater Träume für seinen Sohn hatte, obwohl ich nie davon erfahren habe.“
„Hat er dir diese Kiste hinterlassen?“
„Ja.“ Er umschloss ihre Hand und hob den Deckel der Box an.
„Mein Gott!“ Sie starrte wie gebannt auf den Inhalt der Kiste. „Étienne …“ Sie verstummte.
Er kannte jedes
Weitere Kostenlose Bücher