Bisduvergisst
Fleisch. Ich sehe die Pinzette im Licht eines Lötkolbens. Es gibt kein anderes Licht. Nur diese Flamme.
Nimmt sie mir den Arm ab?, frage ich dich, aber du schüttelst nur den Kopf, starrst auf die Wunde und sagst, ich soll nicht albern sein. Warum übergibst du dich nicht, Lisa? Sagtest du nicht, du könntest kein Blut sehen? Und diese Frau da, die produziert Blut, das sprudelt und sprudelt aus meinem Körper, und ich zittere, mir ist kalt, aber ich will nicht albern sein, ich will mich nicht beschweren. Ich träume. Träume vom Amerikaner, der mich nach Chicago bringt. Niemand wird davon erfahren, von diesem Traum nicht und auch nicht von den anderen Träumen, die einer Maid aus der Kleinstadt im Kopf herumspuken.
Haben Sie keine Decke?, sehe ich dich fragen, und ich sehe dein Haar, das du schüttelst, und der Staub rieselt heraus, auf mich, auf mein Gesicht. Die Frau bringt eine Decke und sagt, die Wunde ist genäht, du bleibst noch ein bisschen liegen, dann musst du gehen.
Klar, flüstere ich, aber ich höre meine eigene Stimme nicht, sodass ich nicht weiß, ob ich es wirklich gesagt habe oder nur geträumt. Das ist der Nachteil. Alles passiert irgendwann nur noch in den Träumen.
Lisa, wo bist du? Bleib bei mir, ich will nicht allein sein, nicht jetzt, habe ich dich nicht immer im Arm gehalten, wenn du geweint hast?
Lisa?
35
Leitner saß auf der Ladefläche seines Pick-ups und rauchte. Das war nichts Besonderes, so verbrachte er den einen oder anderen Feierabend im Sommer. Er fuhr einfach aus der Stadt raus, stellte den Wagen auf einen Feldweg und spielte Amerika. Heute aber war Elke dabei, und das veränderte die Qualität seines selbstgedrehten Films. Auf eine Weise steigerte es das Erlebnis. Sein Pulsschlag war bei 200 angekommen, mindestens. Auf eine andere Weise schmälerte Elkes Anwesenheit sein Hochgefühl. Wenn er für sich war, brauchte er nicht zu reden. Leitner war maulfaul. Ihm gingen die Wörter aus. Vor allem am Abend. Da hatte er das Gefühl, alle fünf Kilogramm Wörter, die ihm pro Tag zur Verfügung standen, investiert zu haben. Zurück blieb nicht eine Silbe.
Elke hockte auf der Ladefläche neben ihm, das Kinn auf die Knie gestützt, und sah in die Ferne.
Entspann dich, dachte Leitner. Vielleicht will sie sich gar nicht unterhalten. Es soll Frauen geben, die lieben das Schweigen. Wieso Elke eigentlich weiter ihren Ehering trug? Leitner sah verstohlen auf ihre rechte Hand. Schöne Hände. Schnippelten täglich an Leichen herum, aber sie sahen aus wie die Hände einer Kosmetikerin. Wie sehen eigentlich die Hände einer Kosmetikerin aus?, überlegte Leitner. Das lag an Elke. Nur weil sie hier saß, machte er sich bescheuerte Gedanken. War ja ganz egal, welche Hände eine Kosmetikerin hatte.
»Die Julika geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Elke.
Leitner drückte seine Kippe an der Seitenwand aus und schnippte sie über Bord. War nur Tabak. Reine Natur. »Wieso?«
»Weil ich persönlich niemals einfach so eine CD mit zu den Veranstaltungen nehmen würde. Wenn ich Hochzeiterin wäre.«
»Was würdest du denn mitnehmen?« Leitner richtete sich auf und lehnte sich Elke gegenüber an die Seitenwand der Ladefläche. Nun hatte er die Sonne im Rücken, aber dafür sah er Elkes Gesicht in strahlendem Orange.
»Taschentücher, Hausschlüssel, vielleicht ein paar Euro. Eine Slipeinlage oder wahlweise einen Tampon zum Wechseln.«
Leitner wurde rot und war dankbar, dass Elke es im Gegenlicht nicht sah.
»Ich versuche, mir ein Szenario vorzustellen, wie Julika an die CD gekommen sein könnte, wenn sie sie nicht zu Hause in ihren Beutel gesteckt hätte«, fuhr sie fort.
»Sie könnte es irgendwo draußen von jemandem bekommen haben.«
»Pfff, Leitner!« Elke Winterling lachte. »CD-Übergabe auf der Landshuter Hochzeit? Unwahrscheinlich.«
»Sei nicht so streng! Auch die Landsknechte und Trommler gehen ab und zu in ein Café auf einen Coffee to go.«
»Vergiss es.« Elke lachte.
Leitner hätte gern noch eine Zigarette geraucht. Aber er wollte versuchen, die Pausen zwischen den Kippen auszudehnen. Vielleicht würde er auf 40 Zigaretten am Tag runterkommen. Von mindestens 50. »Dann bleibt nicht mehr viel. Nur, dass der Mörder ihr die CD in den Beutel geschoben hat.«
»Überleg mal. Der Beutel ist winzig.«
Leitner wartete. Es war ihm sympathisch, dass Elke sich Zeit ließ.
»Allerdings habt ihr ja ständig mit Taschendieben und Kleinstkriminellen zu tun«, fügte sie hinzu. »Wer was
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