Bisduvergisst
hatte.«
»Aber sie lag politisch ziemlich anders als Lisa. Hat sie mir zumindest erzählt.«
Helga rückte an ihrer Brille. »Irma hielt nichts von den Nazis. Sie machte halt mit. Hielt den Mund, wie wir alle. Zum Schämen ist das! Ein Volk, das mal eben mitmacht. Verstand und Instinkt ausschaltet und …« Sie brach ab.
»Lisa und Irma kamen dann zusammen zum Reichsarbeitsdienst?«
»Ja. 1944 muss das gewesen sein. Es erwischte sie gemeinsam. Lisas Vater galt seit 1943 als vermisst. Sie schwankte zwischen tiefer Trauer, irrationaler Hoffnung, er käme noch zurück, und Stolz, dass ihr Vater auf dem Feld der Ehre … und so weiter. Ich kann diese Formeln nicht einmal wiederholen, ohne dass sich mir alle Haare aufstellen.«
Wir schwiegen und rauchten. Als ich meine Kippe ausdrückte, fragte ich: »Wie ist Lisa gestorben?«
»Das war mysteriös. Aus Irma habe ich nie etwas herausgekriegt. Wenn Sie mich fragen: Irma fühlte sich schuldig an Lisas Tod. Nicht, dass sie … eine wirkliche Schuld auf sich geladen hätte. Aber irgendetwas beschäftigte sie. Als Lisa tot war, holten wir ihre Mutter zu uns. Sie blieb bei uns in München wohnen. Bis zu ihrem Tod lebten meine Mutter und Tante Franzi zusammen. Die beiden Schwestern hingen sehr aneinander. Im Alter wurden sie sich immer ähnlicher, wie Zwillinge. Sie kleideten sich gleich und gingen oft Hand in Hand spazieren. Ihre starke Nähe, ich möchte sagen, ihre Seelenverwandtschaft, hat sie aufrechterhalten. Tante Franzi war für meine Geschwister und mich wie eine zweite Mutter. In Zeiten wie diesen kann man ja gar nicht genug Mütter haben. Keine Liebe mehr, nur noch Leistung, Konkurrenz, Materialismus.« Helgas Hände spielten mit der Zigarettenschachtel. »Tante Franzi starb 1987. Meine Mutter ein halbes Jahr später. «
»Lagen sie auch im selben Grab?«
»Aber ja. Niemand hätte sie trennen können.«
»Haben Sie Kontakt zu Irma gepflegt?«
»Nein. Dazu waren wir auch … wie soll ich sagen … nun, wir hatten nicht viel gemeinsam.«
Ich betrachtete Helga. Eine Frau, die etwas Vornehmes, Anmutiges ausstrahlte. Dagegen Irma: ein Erdmännchen, ein Haudegen, ein Wirbelwind.
»Sie war ein Lausbub. Als Kind wollte sie immer ein Junge sein.« Helga lachte.
»Aber wie kam es, dass niemand etwas über die Umstände von Lisas Tod in Erfahrung brachte?«
»Wir bekamen nur bruchstückhafte Informationen. Meine Mutter kümmerte sich um alles, Papiere, Bestattung. Tante Franzi war gar nicht in der Lage dazu.«
»Lisa soll ertrunken sein«, sagte ich vorsichtig.
»Ja. In einer Pfütze.«
»In einer – Pfütze?«
»Ich sage ja, mysteriös. Meinen Sie, wir hätten damals Detektiv gespielt? Jeder war damit beschäftigt, zu überleben. Nicht krank zu werden, nicht zu verhungern, keine Bombe auf den Kopf zu kriegen. Nicht aufgeknüpft zu werden von den Schergen, die überall unterwegs waren! Wir zählten die Tage, bis endlich die Amerikaner kamen. Und fürchteten sie gleichzeitig. Ich habe damals mehr Angst um Lisas Mutter gehabt, als ich Trauer um Lisa empfunden habe. Ich wollte einfach nicht, dass Tante Franzi auch noch zugrunde geht. Lisa war tot, aber ich empfand kaum etwas. Dazu hatte ich zu viele Tote gesehen. Ich musste eine Weile in einem Lazarett arbeiten. Was ich dort mitbekam, hat an Entsetzlichem für mein Leben gereicht.«
»Hat irgendjemand sich näher dafür interessiert, wie Lisa in einer Pfütze ertrinken konnte?«, fragte ich. Ich dachte an den Mord in Landshut. Julika Cohen, die man tot in einer Pfütze liegend gefunden hatte. Nicht ertrunken, das hatte Kreuzkamp in der Zeitung geschrieben. Ihr war das Genick gebrochen worden. Ein Mädchen, etwa so alt wie Lisa damals, ein Mädchen, das dieser Lisa auch noch ähnlich sah.
»Nicht, dass ich wüsste. Wie geht es Irma?«
»Nicht gut. Sie hat eine schlechte Diagnose bekommen. Alzheimer.«
Helga sah mich durch ihre immensen Brillengläser hindurch an und sagte: »Das ist jetzt nicht wahr?«
»Doch. Leider.«
»Scheibenhonig. Hat sie schon vergessen, wer sie ist?«
»Das Problem besteht darin, dass ihre Enkelin umgebracht wurde. Julika, gerade 20 Jahre alt.« Ich räusperte mich. Todesnachrichten zu überbringen war ich nicht gewöhnt. »Seit Irma das weiß, hat sie rapide abgebaut.«
»Da werden die Ärzte sagen, das sei eine Stressdemenz. Extrem schneller mentaler Abbau aufgrund eines Schockerlebnisses. Ein schönes Etikett.« Helga Geraldy lachte laut auf. Dann blickte sie aus dem
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