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Bisduvergisst

Bisduvergisst

Titel: Bisduvergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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vergeblichen Startversuchen endlich ansprang. Ich hockte immer noch auf dem Boden. Sah hoch in Chrissie Brehms freundliches Gesicht. Bestimmt musste sie weiter. Die Paketdienste knechteten ihre Angestellten mit surrealen Zeitplänen.
    »Soll ich jemanden anrufen? Polizei? Arzt?« Sie sah mich unsicher an. Eine kompakte, kleine, runde Frau mit kurzen Beinen, einem dicken Hintern und wuscheligem, schwarzem Haar.
    »Ich glaube nicht«, antwortete ich. Bleib bei mir, wollte ich sagen. Nimm mich in deine Arme, drücke mich an deinen runden Körper, und ich fresse dir aus der Hand.
    Natürlich sagte ich das nicht. In unserem Kulturkreis wurde nicht geweint. Man stürzte sich einer Fremden nicht in die Arme. Auch nicht, wenn sie ein Ausbund an Mütterlichkeit war. Man riss sich am Riemen. War grausam zu sich selbst. Am Riemen reißen, die Zähne zusammenbeißen, alles brutale Bilder. Eingeschnürt in einen Riemen. Ausgerechnet eingeschnürt. Mir sprangen die Tränen aus den Augen.
    Chrissie Brehm, die Paketbotin, setzte sich neben mich auf die Küchenfliesen und nahm mich in ihre Arme. Presste mich an ihren weichen Busen, an ihre dümmliche Paketbotenuniform, die nach Waschmittel roch und nach Schweiß, nach Sommertag.
    Ich hatte nie eine wirkliche Mutter gehabt. Eine biologische Mutter, das schon. Die hatten wir alle. Die war die Eintrittskarte. Aber die Vorstellung, die wir mit diesem Ticket besuchten, konnte ganz unterschiedlich sein. Meine Mutter war keine warmherzige Frau. Sie war kein Monster, aber sie hatte auch nichts Mütterliches an sich. Sie hatte sich nie dafür interessiert, wie es mir ging. War ihren eigenen Weg gegangen, der gesellschaftlichen Propaganda folgend. Ich hatte nebenbei mitleben dürfen. Als Kind, als Jugendliche. Ich hatte den Vater verloren, der daran zugrunde gegangen war, dass seine Frau ihn nicht liebte. Ich hatte meinen Bruder geliebt, aber in den letzten Jahren hatten wir immer weniger voneinander gehabt. Ich war erwachsen. Ich liebte Nero, aber ich war allein.
    Nun Chrissie Brehm. Unerwartet, geschenkt. Außergewöhnlich. Und so wunderbar weich und rund, wie meine Mutter nie sein wollte. Sie zog eine Diät nach der anderen durch, um athletisch auszusehen. Joggte, stemmte Hanteln. Hungerte sich durch ihre einsamen Abende mit Selleriestangen und Vollkornknäckebrot. Eingepfercht war sie im Kerker ihrer Forderungen an sich selbst.
    Chrissie Brehm besaß ein Stofftaschentuch, das sie aus ihren unvorteilhaft sitzenden Uniformhosen herausnahm. Ich wollte danach greifen, aber sie tupfte mir die Tränen ab. Sie tat das.
    Ich hielt still.
    Unbegreiflich.

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    Natürlich hatte er geschimpft und sich aufgeführt und Stress produziert. Aber wenigstens war er hier. Bei mir.
    »Du musst ihn anzeigen. Kannst du ihn beschreiben?«
    Ich muss, ich muss, ich muss. Schluss mit den Instinkten. Jetzt gelten wieder Regeln und Gesetze. Weil wir die Instinkte abgeschaltet haben, brauchen wir Normen von außen, die uns sagen, wie wir zusammen leben können, ohne uns gegenseitig auszurotten.
    »Groß, vielleicht so groß wie du«, antwortete ich. Ich war heiser, mein Hals tat immer noch weh. »Hager. Wirkte irgendwie knöchern. Trug ein dunkles Sweatshirt, langärmelig, dunkle Jeans, eine Gesichtsmaske. Roch komisch.«
    »Wie?«
    »Ich würde es dir sagen, wenn ich ein Wort wüsste.«
    Nero stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Verdammt, Kea! Konzentrier dich! Bist du nicht die Freundin aller Wörter?«
    Ich dachte an Chrissie Brehm und ihre bedingungslose, unverkrampfte Freundlichkeit. An ihre warmen Arme und mein Gesicht an ihrem Busen. Vor mir stand Nero, unruhig tänzelnd wie ein Hengst, mit einem krittelnden Unterton in der Stimme.
    »Das ist ein Kerker«, sagte ich leise. »Wir quälen uns noch selbst zu Tode.«
    »Zum Teufel, Kea, ich will dir helfen! Wir müssen diesen Typen auftreiben!«
    Müssen, müssen, müssen.
    Alles ist vergänglich. Nichts hat Bestand. Zwei Sätze aus dem Vorwort der Buddha-Diät. Wie konnte man den Buddhismus gut finden, wenn einem dort jegliche Illusion genommen wurde? Eine Religion, in der nichts Bestand hatte? Sehnten wir uns im Gegensatz dazu nicht nach dem ewigen Leben? Wo genau das Bestand hatte, was uns so kostbar war: das Leben?
    Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer von Julianes Schwester Dolly.
    »Kea!«, rief Nero.
    Niemand ging an den Apparat. Ich legte das Handy weg.
    Nero packte mich bei den Schultern. »Rede mit mir! Du musst den Mann anzeigen. Steckst du in

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