Bisduvergisst
Hält die Füße in das warme Wasser. Ich glaube, Sterben ist so. In eine andere Zeit gehen. Dann bin ich wieder so alt wie Lisa. Wie dumm wäre es, wenn sie 19 ist und ich bin so eine alte Schateke! Irma kichert. Sie rutscht ganz in die Wanne. Betastet ihren Körper und stellt fest, dass sie Schlüpfer und Unterhemd angelassen hat. Das ist gut. Das erzählt sie Julika. Julika schimpft nie mit ihr, wenn Irma ungewöhnliche Sachen macht. Wenn in der Wohnung am Tag alle Lichter brennen. Wenn Irmas Hände kackbraun sind, weil sie den Selbstbräuner mit der Handcreme verwechselt hat. Dann legt Julika den Arm um sie, Irma drückt den Kopf an Julikas Schulter, und sie lachen beide und haben einander lieb. Julika, meine Julika, mein einziges Glück.
49
»Natürlich ist das Thema knifflig«, sagte Kreuzkamp und goss uns Kaffee nach. Ich hockte auf seinem indonesischen Sitzkissen und besah mir den Haufen an Unterlagen, den er im Laufe der letzten 30 Minuten vor mir abgelegt hatte. »Nazis, Kriegsgeneration.«
»Wenn Sie Ihr Buch veröffentlichen, kriegen Sie sofort eins aufs Maul«, erwiderte ich. »Das Thema ist zu belastet. Unser geschichtliches Erbe zu grässlich. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt, kann Ihr Verhängnis werden. Außerdem ist mittlerweile viel zu viel veröffentlicht worden. Die eine Fraktion wird sagen, Sie verharmlosen. Andere werden meckern, weil das Thema zum hunderttausendsten Mal aufgerollt wird.«
»Aber mir geht es nicht um Verbrechen, nicht um Schuld, nicht um Sühne. Mir geht es um das Vergessen!«, ereiferte sich Kreuzkamp. »Nicht um die historische Verantwortung unserer Generation. Nicht um das gesellschaftliche Bewusstsein. Nicht um die Frage, wie das alles passieren konnte. Ich will die Leute sprechen lassen, die es noch mitbekommen haben, aber die bald tot sein werden. Sie sind die letzten Zeitzeugen. Menschen wie Irma oder Gustav Kirchler. Es kann doch nicht verboten sein, sie ihre Erlebnisse erzählen zu lassen.«
»Verboten ist es nicht, aber Sie wissen, wie Öffentlichkeit funktioniert. Kritiker müssen was zu kritteln haben, und da bietet Ihr Buch genug Stoff.«
Kreuzkamp stöhnte. »Warum entmutigen Sie mich so?«
Ich hatte seine wenigen Kapitel, die halbwegs abgeschlossen schienen, gelesen. Mein Bauch sagte mir sofort: So wird das nichts.
»Wenn ich mal Kritikerin spielen darf: Das, was Sie bisher geschrieben haben, ist Wischiwaschi. Daraus geht Ihre Absicht überhaupt nicht hervor. Sie sagen, Ihr Thema ist das Vergessen. Dann schreiben Sie Ihren Text so, dass der Leser das merkt.«
Kreuzkamp lachte matt. »Diese Generation kann gar keine Täter mehr hervorgebracht haben. Die waren 18 bei Kriegsende. Als ich 18 war«, er seufzte theatralisch, »ging ich in die 12. Klasse und meine Mutter gab mir jeden Morgen die Cornflakes in die Schüssel.«
»So unterschiedlich können Leben sein.«
»Das ist es ja! Das interessiert mich.«
»Sie meinen: das Individuelle?«
»Oblivion«, sagte Kreuzkamp. »Warum schwinden Erinnerungen? Warum zerfällt das Gedächtnis? Schützt sich Irma vor etwas? Wenn ich mich nicht mehr erinnere – wer bin ich dann?«
Ich dachte an die vergangene Nacht, an den Morgen, den ich stundenlang verschnürt auf den Küchenfliesen gelegen hatte.
»Man kann nicht willentlich etwas vergessen«, sagte ich. »Unser Gedächtnis macht mit uns, was es will.«
»Ich habe recherchiert«, verkündete Kreuzkamp stolz. »Wollen Sie hören?«
»Nur zu!«
»Das Gedächtnis ist nicht ausschließlich an einer bestimmten Stelle in unserem Gehirn lokalisierbar. Es ist sozusagen überall. Es ist auch nicht einfach ein Speicher. Es funktioniert deshalb, weil jede Nervenzelle mit jeder anderen in Verbindung steht. Ein gigantisches Spinnennetz aus Fäden, auf denen Informationen hin und her rasen. Jede Stimulation von außen verursacht Veränderung, Bewegung, Aktivität. Und auch Stimulation von innen! Wenn wir uns etwas vorstellen, dann beeinflusst das unser Gehirn. Ist das nicht großartig?«
»Aber Erinnerung funktioniert nicht nur in jedem einzelnen Kopf«, widersprach ich. »Sie ist eine Angelegenheit aller. Wenn wir in unserer Gesellschaft die Erinnerung an die Millionen ermordeter Juden und anderer Opfer des Naziregimes hochhalten, hat das wenig mit Gehirn zu tun, sondern mehr mit Verantwortungsgefühl oder dem gemeinsamen Bewusstsein von Schuld.«
»Sehr weise.« Kreuzkamp trank seinen Kaffee aus und wühlte in den Papieren. »Noch ein Aspekt ist wichtig: Wir
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