Bisduvergisst
sind mit Erinnerung völlig übersättigt. Ich suche jemanden, der mich lehrt, zu vergessen. Überall umflattern uns Informationen, Daten. Mein Kopf ist überfordert.«
»Das ist keine Erinnerung, was Sie meinen. Das ist …«
Kreuzkamp unterbrach mich: »Korrekt, und dieser Gedanke fasziniert mich: Die Erfindung der Schrift hat das Gedächtnis zerstört. Wir können alles konservieren. Und daher brauchen wir uns an nichts mehr zu erinnern. Nicht wie die schriftlosen Kulturen, die ihre Mythen und ihr gesamtes kollektives Bewusstsein mündlich weitergeben. Die haben noch ein gutes Gedächtnis. Aber wir …«
Er rührte am springenden Punkt: In unserer virtuellen Welt war authentische Erfahrung ein kostbares Gut geworden, sodass ich mich ab und zu dabei ertappte, Irmas Generation zu beneiden.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
Es klingelte an Kreuzkamps Tür. Er sah mich verschmitzt an.
»Klingt nach Theaterstück, oder? Regieanweisung. Es klingelt an der Tür.«
»Erwarten Sie jemanden?« Mein Herz schlug zum Zerspringen. Wieder Erinnerung. Jemand hatte an meiner Tür geklingelt.
»Nein!« Ratlos sah Kreuzkamp zur Wohnungstür, stemmte sich vom Boden hoch und ging öffnen.
Ich rutschte mit dem Hintern an die Wand und lehnte mich an den Heizkörper. Zur Not konnte ich aus dem Fenster springen. Aus dem ersten Stock, aber egal.
Kreuzkamp kam mit einer Frau zurück. Sie mochte um die 50 sein, trug das Haar lang und offen. Getöntes Haar. Zu kastanienbraun, um echt zu sein.
»Linda Offenbach«, stellte Kreuzkamp vor. »Das ist Kea Laverde. Eine Kollegin.«
Linda Offenbach nickte mir unsicher zu. Ich stand auf und drückte ihr die Hand.
»Sie schreiben doch diese Geschichten auf«, sagte Linda zu Kreuzkamp und musterte die Sitzkissen. Anscheinend hatte sie Angst, er würde sie auffordern, Platz zu nehmen. »Ich wollte Ihnen sagen: Das wird plötzlich ein Thema in der Stadt.«
»Was meinen Sie?« Wieder trat der typische Ausdruck von Verwirrung in Kreuzkamps Gesicht, der so verdammt an Cary Grant erinnerte: ein paar sehr dekorative Falten auf seiner Stirn.
»Weil die Julika nämlich auch herumgefragt hat«, sagte Linda. »Das war eine eigenartige Sache. Die meinte, wenn Hochzeit ist, dann kennt Landshut ja keinen anderen Gesprächsstoff. Dann ist für etwas anderes keine Zeit.«
Ich verstand nur Bahnhof.
»Möchten Sie Kaffee?«, fragte Kreuzkamp.
»Nein, danke. Meine Mutter war auch so eines«, sagte sie. »Eines von den Kriegskindern. Für die Sie sich interessieren. Julika war bei uns. Der Polizei habe ich das nicht gesagt. Sie hat lange mit meiner Mutter gesprochen. Der Julika ging es nahe, dass ihre Großmutter abbaut. Richtig leidenschaftlich hat sie sich um die Irma gekümmert, hat herumgefragt wegen Plätzen im Pflegeheim. Hat sich dann anders entschieden. Wollte dafür sorgen, dass Irma nach Regensburg kommt, in eine Wohngemeinschaft für Demenzkranke. Sie wollte sogar selber nach Regensburg ziehen, dort studieren ab dem Herbst, damit sie in Irmas Nähe sein konnte. Die Julika hat für ihre Großmutter ihr ganzes Leben umgekrempelt.«
Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Sah die Tribünen, die Absperrungen. Ein Trupp Musikanten gab ein Ständchen vor dem Rathaus.
»Ich habe das für meine Mutter nicht gemacht«, sagte Linda Offenbach.
»Was ist mit Ihrer Mutter?«, fragte ich.
»Sie ist gestorben. Vor zwei Wochen. Ich mache mir Vorwürfe. Ich habe nie auf sie geachtet. Ihre Geschichten nicht hören wollen.«
Das ist ganz normal, dachte ich. Dafür braucht es die Enkelgeneration. Die stellt die Fragen.
»Julika kam kurz nach Mutters Beerdigung zu mir. Sie fragte mich allerlei. Über eine Lisa. Und Sie«, sie sah mich an, nicht Kreuzkamp, »tun ja wohl dasselbe, ja?«
»Woher wissen Sie das?«
»Das erzählen die Leute. Die Traudl Niebergall ist eine Klatschtante, bei der ist kein Geheimnis sicher. Wenn Sie was unter die Leute bringen wollen …« Sie sah mich mit schiefgelegtem Kopf an. »Sie sind auch keine Erbenermittlerin!«
»Was erzählen sich die Leute?« Ich trat auf Linda Offenbach zu und sah ihr fest in die Augen. Braune Augen. Die Iris verschwamm mit dem Weiß ihres Augapfels.
»Dass Sie nachforschen, weil es einen Mord gegeben haben soll. Damals. 1945.«
»Ach was«, wiegelte Kreuzkamp ab. »Die Landshuter sind durcheinander. Ein Mord zur Hochzeit und dann auch noch eine alte, aufgewärmte Geschichte …«
»Die Traudl kennt ihren Bruder durch und durch. Der Kirchler
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