Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen
was?« Er war misstrauisch, versuchte aber locker zu klingen.
»Stimmt, von den Jungs ist mir bis jetzt noch keiner ins Auge gefallen.« Wieder wand ich mich mit meiner Antwort, um ihn nicht direkt anzulügen, und gab darauf Acht, das Wort »Jungs« nicht allzu sehr zu betonen.
»Ich dachte, dass vielleicht Mike Newton … Du meintest doch, er ist nett.«
»Wir sind nur befreundet, Dad.«
»Na ja, sie sind sowieso alle nicht gut genug für dich. Warte lieber bis zum College, bevor du dich umschaust.« Der Traum eines jeden Vaters: dass die Tochter aus dem Haus ist, bevor die Hormone zum Leben erwachen.
»Klingt nach einer guten Idee«, sagte ich und stand schon mit einem Fuß auf der Treppe.
»Nacht, Schatz«, rief er hinter mir her. Unter Garantie würde er jetzt den ganzen Abend mit gespitzten Ohren darauf warten, dass ich versuchte mich hinauszuschleichen – da war ich mir sicher.
»Bis morgen, Dad.« Oder bis Mitternacht, wenn du heimlich in mein Zimmer kommst, um nach mir zu sehen.
Ich achtete darauf, meine Schritte auf der Treppe extra träge und abgeschlafft klingen zu lassen. Oben angekommen zog ich meine Tür extra laut zu, sprintete auf Zehenspitzen zum Fenster, riss es auf und beugte mich in die Nacht hinaus. Meine Augen wanderten suchend durch das Dunkel, glitten über die undurchdringlichen Schatten der Bäume.
»Edward?«, flüsterte ich und kam mir völlig verblödet vor.
Ich hörte ein amüsiertes Räuspern, doch nicht aus der erwarteten Richtung. »Ja?«, fragte es hinter mir.
Erschrocken fuhr ich herum.
Er lag breit grinsend auf meinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Beine ausgestreckt – ein Bild der Behaglichkeit.
»Oh!«, sagte ich tonlos und ließ mich schwankend zu Boden sinken.
»Tut mir leid.« Er kniff seine Lippen zusammen, um nicht lachen zu müssen.
»Einen Augenblick … mein Herz muss nur wieder in Gang kommen.«
Langsam, um mich nicht noch einmal zu erschrecken, setzte er sich auf. Dann beugte er sich vor, streckte seine langen Arme nach mir aus und hob mich aufs Bett.
»Setz dich doch zu mir«, sagte er und legte eine kalte Hand auf meine. »Wie geht’s dem Herzen?«
»Sag du’s mir – ich bin sicher, du hörst es besser als ich.«
Sein lautloses Lachen ließ das Bett vibrieren.
Eine Weile saßen wir stumm da und lauschten darauf, wie mein Herzschlag sich beruhigte. Ich dachte daran, dass Charlie im Haus war – und Edward in meinem Zimmer.
»Kann ich mal kurz ein paar menschlichen Bedürfnissen nachgehen?«, fragte ich.
»Aber sicher.« Er signalisierte mit der Hand, dass ich mich nicht abhalten lassen sollte.
»Und du bleibst, wo du bist«, sagte ich und versuchte, streng zu gucken.
»Ja, Ma’am.« Er tat so, als würde er sich auf meiner Bettkante in eine Statue verwandeln.
Ich sprang auf, klaubte meinen Schlafanzug vom Boden, nahm den Waschbeutel vom Tisch und schlüpfte nach draußen. Hinter mir schloss ich die Tür; das Licht im Zimmer hatte ich gar nicht erst angeschaltet.
Von unten hörte ich den Fernseher. Ich schlug die Badezimmertür extra laut zu, damit Charlie nicht auf die Idee kam, jetzt zu mir raufzukommen.
Ich wollte keine Sekunde länger als absolut notwendig im Bad verbringen und putzte mir wie eine Irre die Zähne, wobei ich versuchte, sowohl schnell als auch gründlich zu sein. Als sämtliche Reste der Lasagne entfernt waren, stellte ich mich unter die Dusche, doch das heiße Wasser bremste meine Eile. Langsam entkrampfte es die verhärteten Muskeln in meinem Nacken und beruhigte meinen Puls. Der vertraute Duft des Shampoos gab mir das Gefühl, dieselbe Person wie am weit zurückliegenden Morgen dieses Tages zu sein. Ich zwang mich, nicht daran zu denken, dass Edward in meinem Zimmer auf mich wartete – anderenfalls hätte ich mit der Entspannung gleich wieder von vorne beginnen können. Schließlich aber hielt ich es nicht länger aus, stellte das Wasser ab – und schon hatte mich die Hektik wieder. In aller Schnelle trocknete ich mich ab und zog mir das löchrige T-Shirt und die graue Jogginghose an, in denen ich schlief – jetzt war es zu spät, um zu bedauern, dass ich den seidenen Schlafanzug von Victoria’s Secret , ein Geburtstagsgeschenk von Mom, nicht mitgebracht hatte. Er lag mitsamt Etikett in irgendeinem Schubfach in Phoenix.
Ich rubbelte mir ein letztes Mal die Haare ab und kämmte sie notdürftig mit der Bürste durch. Dann flog das Handtuch in den Wäschekorb und das Zahnputzzeug in
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