Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
gegangen? Harrys Herzinfarkt hatte alles in ein anderes Licht gerückt. Ich wollte die Dinge lieber nicht in diesem neuen Licht sehen, weil das – wenn ich ehrlich war – hieße, dass ich mein Verhalten ändern musste. Könnte ich so leben?
Vielleicht. Es würde nicht einfach sein. Es wäre sogar ganz schrecklich, meine Halluzinationen aufzugeben und zu versuchen, mich wie ein erwachsener Mensch zu benehmen. Aber vielleicht sollte ich das tun. Und vielleicht konnte ich es auch. Wenn ich Jacob hatte.
Ich konnte diese Entscheidung nicht sofort treffen. Es tat zu weh. Ich musste an etwas anderes denken.
Bilder meines unbesonnenen Sprungs am Nachmittag gingen mir durch den Kopf … das Gefühl während des Falls, das schwarze Wasser, die tosende Brandung … Edwards Gesicht … an dieser Stelle verharrte ich lange. Jacobs warme Hände, als er versuchte, wieder Leben in mich hineinzupumpen … der stechende Regen, der aus lilafarbenen Wolken kam … die seltsame Flamme auf den Wellen …
Dieser Farbblitz auf dem Wasser war mir irgendwie bekannt vorgekommen. Natürlich konnte es kein richtiges Feuer gewesen sein …
Meine Gedanken wurden vom Geräusch eines Autos unterbrochen, das sich draußen durch den Matsch kämpfte. Ich hörte, wie es vor dem Haus hielt und wie Türen aufgingen und wieder zugeschlagen wurden. Ich überlegte, ob ich mich aufsetzen sollte, entschied mich aber dagegen.
Billys Stimme war leicht zu erkennen, aber er sprach ungewöhnlich leise, so dass nur ein ernstes Gemurmel zu hören war.
Die Tür ging auf und das Licht wurde eingeschaltet. Ich blinzelte, im ersten Moment konnte ich nichts sehen. Jake schrak aus dem Schlaf auf, keuchte und sprang auf die Füße.
»Entschuldigung«, brummte Billy. »Haben wir euch geweckt?«
Langsam erfasste mein Blick sein Gesicht, und als ich den Ausdruck darin sah, füllten sich meine Augen mit Tränen.
»O nein, Billy!«, stöhnte ich.
Er nickte langsam, das Gesicht versteinert vor Trauer. Jake ging zu ihm und nahm ihn bei der Hand. Der Schmerz ließ Billys Gesicht plötzlich kindlich erscheinen.
Sam stand direkt hinter Billy und schob den Rollstuhl durch die Tür. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und von seiner üblichen Gelassenheit war nichts zu spüren.
»Es tut mir so leid«, flüsterte ich.
Billy nickte. »Das wird für alle sehr schwer.«
»Wo ist Charlie?«
»Dein Vater ist noch mit Sue im Krankenhaus. Es muss eine Menge … geregelt werden.«
Ich schluckte schwer.
»Ich fahre lieber wieder zurück«, murmelte Sam und verschwand schnell zur Tür hinaus.
Billy entzog Jacob seine Hand und fuhr durch die Küche in sein Zimmer.
Jacob starrte ihm eine Weile nach, dann setzte er sich wieder neben mich auf den Boden. Er schlug die Hände vors Gesicht. Ich rieb seine Schulter, ich hätte so gern irgendwas Tröstliches gesagt.
Nach einer langen Zeit nahm Jacob meine Hand und legte sie an seine Wange.
»Wie geht es dir? Alles in Ordnung? Ich hätte dich eigentlich zum Arzt fahren müssen.« Er seufzte.
»Mach dir um mich keine Sorgen«, krächzte ich.
Er wandte den Kopf und schaute mich an. Seine Augen waren rot gerändert. »Du siehst aber nicht so gut aus.«
»Mir geht’s auch nicht so gut.«
»Ich hol deinen Wagen und fahr dich nach Hause – wenn Charlie kommt, musst du zu Hause sein.«
»Ja, das ist wahr.«
Während ich auf ihn wartete, lag ich matt auf dem Sofa. Aus Billys Zimmer war nichts zu hören. Ich kam mir vor wie ein heimlicher Zuschauer, der durch die Ritzen einen Kummer sieht, der nicht der seine ist.
Jake brauchte nicht lange. Der röhrende Motor des Transporters durchbrach die Stille früher, als ich erwartet hatte. Wortlos half Jacob mir vom Sofa auf und ließ den Arm um meine Schulter, als ich draußen in der Kälte anfing zu zittern. Ohne zu fragen, setzte er sich auf den Fahrersitz, dann zog er mich neben sich und hielt mich fest im Arm. Ich legte den Kopf an seine Brust.
»Wie kommst du nach Hause?«, fragte ich.
»Ich gehe nicht nach Hause. Wir haben die Rothaarige immer noch nicht gefangen, erinnerst du dich?«
Als ich jetzt schauderte, hatte es nichts mit der Kälte zu tun.
Danach sprachen wir während der ganzen Fahrt nicht mehr. Die Kälte hatte mich aufgeweckt. Ich hatte jetzt einen klaren Kopf, konnte wieder denken.
Was wäre wenn? Was sollte ich tun?
Ich konnte mir ein Leben ohne Jacob nicht vorstellen – schon vor dem bloßen Gedanken schrak ich zurück. Er war für mich lebenswichtig geworden. Aber
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