Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
entfernt war.
»Ich glaube, sie hat einen hysterischen Anfall. Vielleicht solltest du sie ohrfeigen«, schlug Alice vor.
Edward warf ihr einen wütenden Blick zu.
Da begriff ich. Oh. Ich machte das Geräusch. Das war das Schluchzen, das aus meiner Brust kam. Deshalb wurde ich so geschüttelt.
»Es ist alles gut, jetzt kann dir nichts mehr passieren, es ist gut«, sagte er immer wieder. Er zog mich auf seinen Schoß und wickelte mich in den dicken Wollumhang, um mich vor seiner kalten Haut zu schützen.
Ich wusste, dass es idiotisch war, jetzt daran zu denken. Aber wie viel Zeit hatte ich noch, ihn anzuschauen? Er war gerettet, ich war gerettet, und sobald wir in Freiheit waren, konnte er mich verlassen. Dass die Tränen mir den Blick so verschleierten, war die reine Verschwendung – Irrsinn.
Doch hinter meinen Augen, wo die Tränen das Bild nicht wegwaschen konnten, sah ich immer noch das panische Gesicht der Frau mit dem Rosenkranz.
»All die Menschen«, schluchzte ich.
»Ich weiß«, flüsterte er.
»Es ist so schrecklich.«
»Ja. Ich hätte dir das gern erspart.«
Ich legte den Kopf an seine kalte Brust und wischte mir die Augen mit dem dicken Umhangstoff ab. Ich atmete ein paarmal tief ein und aus, um mich zu beruhigen.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte eine höfliche Stimme. Es war Gianna, die sich über Edwards Schulter beugte. Ihr Blick war besorgt und doch professionell und distanziert. Es schien ihr nichts auszumachen, dass ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von einem feindlichen Vampir entfernt war. Entweder hatte sie keine Ahnung, was vorging, oder sie machte ihren Job sehr gut.
»Nein«, sagte Edward kalt.
Sie nickte, lächelte mir zu und verschwand.
Ich wartete, bis sie außer Hörweite war. »Weiß sie, was hier geschieht?«, fragte ich mit leiser, heiserer Stimme. Ich hatte mich langsam wieder im Griff, mein Atem ging regelmäßiger.
»Ja. Sie weiß alles«, sagte Edward.
»Weiß sie, dass sie irgendwann umgebracht wird?«
»Sie weiß, dass das durchaus möglich ist«, sagte er.
Das überraschte mich.
Es war schwer zu erraten, was Edward dachte. »Sie hofft, dass sie sich entschließen, sie zu behalten.«
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. »Sie will eine von ihnen werden?«
Er nickte einmal kurz und sah mich scharf an, während er auf meine Reaktion wartete.
Ich schauderte. »Wie kann sie das nur wollen?«, flüsterte ich. Ich sprach mehr zu mir selbst, als dass ich eine Antwort erwartete. »Wie kann sie zusehen, wie all die Leute in diesen grässlichen Raum geschleust werden, und dabei mitmachen wollen?«
Edward antwortete nicht. In seinem Gesicht zuckte es als Reaktion auf etwas, das ich gesagt hatte.
Als ich in sein allzu schönes Gesicht schaute und den Wandel zu verstehen versuchte, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich wirklich hier war, in Edwards Armen, wie flüchtig der Moment auch sein mochte, und dass wir nicht – zumindest im Augenblick nicht – getötet wurden.
»Oh, Edward«, rief ich, und jetzt schluchzte ich wieder. Das war so idiotisch. Jetzt konnte ich durch die Tränen wieder nicht sein Gesicht sehen, und das war unverzeihlich. Nur noch die Zeit bis zum Sonnenuntergang war mir sicher. Wieder wie in einem Märchen, dessen Zauber zeitlich begrenzt war.
»Was ist?«, fragte er, noch immer besorgt, und rieb mir sanft über den Rücken.
Ich schlang die Arme um seinen Hals und presste mich enger an ihn. Was konnte er schlimmstenfalls tun? Höchstens mich wegschieben. »Ist es sehr krank, dass ich ausgerechnet jetzt glücklich bin?«, fragte ich. Meine Stimme versagte zweimal.
Er schob mich nicht weg. Er zog mich fest an seine eisharte Brust, so fest, dass ich kaum atmen konnte, obwohl ich nicht länger ein Loch in der Brust hatte. »Ich weiß genau, was du meinst«, flüsterte er. »Aber wir haben auch allen Grund, glücklich zu sein. Schließlich sind wir am Leben.«
»Ja«, sagte ich. »Das ist ein guter Grund.«
»Und zusammen«, hauchte er. Sein Atem war so süß, dass mir ganz schwindelig wurde.
Ich nickte nur. Bestimmt hatte dieser Umstand für ihn längst nicht so eine Bedeutung wie für mich.
»Und mit ein bisschen Glück sind wir auch morgen noch am Leben.«
»Hoffentlich«, sagte ich unbehaglich.
»Die Aussichten sind ganz gut«, versicherte Alice mir. Sie war so still gewesen, dass ich sie fast vergessen hatte. »In weniger als vierundzwanzig Stunden sehe ich Jasper wieder«, fügte sie zufrieden hinzu.
Die
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