Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
schockierte mich jedes Mal aufs Neue, und er war erst vorbei, wenn ich schreiend aufwachte. Am Anfang war Charlie dann immer in mein Zimmer gekommen, um zu sehen, was los war, und sich zu vergewissern, dass ich nicht von einem Einbrecher erwürgt wurde oder so, aber jetzt kam er nicht mehr. Er hatte sich daran gewöhnt.
Der Albtraum würde anderen Leuten wahrscheinlich gar keine Angst machen. Da war nichts, was aus der Finsternis hervorgesprungen kam und »buh!« machte. In dem Traum gab es keine Zombies, keine Gespenster, keine Psychopathen. Eigentlich war da nichts. Nur das Nichts. Nur die endlosen Reihen moosbedeckter Bäume, so still, dass es mir unangenehm auf die Ohren drückte. Es war dunkel wie das Morgengrauen an einem bewölkten Tag, gerade hell genug, um zu sehen, dass es nichts zu sehen gab. Ich hetzte durch die Dunkelheit, in der es keinen Weg gab, und die ganze Zeit suchte ich und suchte und suchte, ich wurde immer panischer, je länger es dauerte, versuchte schneller zu laufen, obwohl ich mich dadurch immer ungeschickter bewegte … Und dann kam der Punkt in meinem Traum – inzwischen spürte ich ihn näher kommen, doch nie schaffte ich es, vorher aufzuwachen –, an dem ich nicht mehr wusste, wonach ich suchte. An dem ich einsehen musste, dass es nichts gab, was ich suchen, und nichts, was ich finden konnte. Dass da immer nur dieser leere, trostlose Wald gewesen war und dass es niemals mehr für mich geben würde … nichts als das Nichts …
An dieser Stelle fing ich normalerweise an zu schreien.
Ich achtete nicht darauf, wohin ich fuhr, denn ich hatte kein Ziel. Ich wählte verlassene nasse Seitenstraßen und vermied die Wege, die nach Hause führten.
Ich wünschte mir das Gefühl der Taubheit zurück, aber ich wusste nicht mehr, wie das ging. Der Albtraum bohrte in meinem Hirn und zwang mich dazu, über Dinge nachzudenken, die mir wehtaten. Ich wollte mich nicht an den Wald erinnern. Selbst als ich die Bilder schaudernd wegwischte, spürte ich, wie meine Augen sich mit Tränen füllten und wie das Loch in meiner Brust wieder anfing zu brennen. Ich nahm eine Hand vom Steuer und schlang den Arm um meinen Oberkörper, damit er nicht in Stücke zerfiel.
Es wird so sein, als hätte es mich nie gegeben . Die Worte hallten in meinem Kopf wider, doch ohne die vollkommene Klarheit der Halluzination von gestern Nacht. Es waren nur Worte, wie auf Papier gedruckt. Nur Worte, doch sie rissen das Loch weit auf, und ich trat auf die Bremse, denn ich wusste, dass ich in diesem Zustand nicht fahren konnte.
Ich krümmte mich, presste das Gesicht ans Steuer und versuchte ohne Lunge zu atmen.
Ich fragte mich, wie lange das noch so gehen konnte. Vielleicht könnte ich eines Tages, in vielen Jahren – wenn der Schmerz auf ein erträgliches Maß zurückgegangen wäre – auf jene wenigen kurzen Monate zurückblicken, die immer die schönsten meines Lebens sein würden. Und falls der Schmerz tatsächlich einmal so weit abklingen würde, dass das möglich wäre, würde ich vielleicht dankbar dafür sein, dass er mir so viel Zeit geschenkt hatte. Mehr, als ich verlangt hatte, mehr, als ich verdiente. Vielleicht konnte ich es eines Tages so sehen.
Aber wenn der Schmerz nun nie nachließ? Wenn das Loch nie verheilte? Wenn die Wunde dauerhaft war und sich nicht reparieren ließ?
Ich schlang mir die Arme fest um den Körper. Als hätte es mich nie gegeben , dachte ich verzweifelt. Was für ein dummes und unmögliches Versprechen! Er konnte mir meine Fotos stehlen und seine Geschenke zurückholen, aber damit war noch lange nicht alles wie damals, bevor wir uns kennenlernten. Die sichtbaren Beweise waren das Unwichtigste von allem. Ich war eine andere geworden, mein Innerstes war kaum wiederzuerkennen. Selbst äußerlich hatte ich mich verändert – mein Gesicht war fahl, weiß bis auf die bläulichen Ränder, die mir die Albträume unter die Augen gemalt hatten. Meine Augen waren in dem bleichen Gesicht so dunkel, dass ich – wäre ich schön gewesen und hätte man mich von weitem gesehen – als Vampir hätte durchgehen können. Aber ich war nicht schön, und vermutlich hatte ich eher Ähnlichkeit mit einem Zombie.
Als hätte es ihn nie gegeben? Das war absurd. Es war ein Versprechen, das er auf keinen Fall halten konnte, ein Versprechen, das er schon in dem Moment gebrochen hatte, als er es gab.
Um mich von dem stechenden Schmerz abzulenken, schlug ich mit dem Kopf gegen das Lenkrad.
Jetzt kam es mir idiotisch
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