Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
dieser allumfassenden Taubheit. Bei der Wahl zwischen Schmerz und dem Nichts hatte ich mich für das Nichts entschieden.
Jetzt wartete ich auf den Schmerz. Ich war nicht länger taub – nach so vielen Monaten im Nebel waren meine Sinne jetzt ungewöhnlich geschärft –, doch der normale Schmerz blieb aus. Nur die Enttäuschung darüber, dass seine Stimme wieder verschwand, tat weh.
Eine Sekunde lang hatte ich die Wahl.
Es wäre vernünftig gewesen, vor dieser Entwicklung davonzulaufen, die möglicherweise zerstörerisch war und mich mit Sicherheit aus dem Gleichgewicht brachte. Es war idiotisch, Halluzinationen hinterherzulaufen.
Doch seine Stimme verschwand.
Versuchsweise machte ich noch einen Schritt auf die Männer zu.
»Bella, kehr um«, sagte er drohend.
Ich seufzte erleichtert. Diese Wut wollte ich hören – der unechte, selbstgemachte Beweis dafür, dass ich ihm etwas bedeutete, ein zweifelhaftes Geschenk meines Unterbewusstseins.
Nur wenige Sekunden waren vergangen, während ich über all das nachgedacht hatte. Mein kleines Publikum schaute mir neugierig zu. Wahrscheinlich sah es so aus, als könnte ich mich nicht entscheiden, ob ich zu ihnen gehen sollte oder nicht. Wie hätten sie auch ahnen können, dass ich dastand und mich über einen unverhofften Anflug von Wahnsinn freute?
»Hi«, rief einer der Männer. Es klang selbstbewusst und sarkastisch zugleich. Der Mann war blond und hellhäutig, und man sah ihm an, dass er sich für ziemlich gut aussehend hielt. Ich konnte nicht beurteilen, ob er gut aussah oder nicht. Ich war voreingenommen.
Die Stimme in meinem Kopf antwortete mit einem wunderschönen Knurren. Ich lächelte, und der Mann schien sich ermutigt zu fühlen.
»Kann ich dir vielleicht helfen? Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen.« Er grinste und zwinkerte mir zu.
Vorsichtig stieg ich über den Rinnstein; das Wasser darin war schwarz in der Dunkelheit.
»Nein, ich hab mich nicht verlaufen.«
Jetzt, da ich näher war, studierte ich mit meinem ungewohnt scharfen Blick das Gesicht des bulligen dunkelhaarigen Mannes. Es kam mir überhaupt nicht bekannt vor. Merkwürdigerweise war ich enttäuscht darüber, dass er nicht der schreckliche Mann war, der mich vor fast einem Jahr überfallen wollte.
Jetzt schwieg die Stimme in meinem Kopf.
Der bullige Mann bemerkte, dass ich ihn anstarrte. »Darf ich dich auf einen Drink einladen?«, fragte er unsicher. Er schien geschmeichelt, dass ich ausgerechnet ihn anschaute.
»Ich bin noch zu jung«, gab ich automatisch zur Antwort.
Er sah verdutzt aus – bestimmt fragte er sich, warum ich auf sie zugekommen war. Ich hatte das Gefühl, ihnen eine Erklärung schuldig zu sein.
»Von der anderen Straßenseite her sahst du aus wie jemand, den ich kenne. Tut mir leid, war eine Verwechslung.«
Die Bedrohung, die mich über die Straße gezogen hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Das hier waren nicht die gefährlichen Männer von damals. Wahrscheinlich waren es ganz nette Typen. Keine Gefahr. Ich verlor das Interesse.
»Kein Problem«, sagte der selbstbewusste Blonde. »Bleib doch und trink was mit uns.«
»Tut mir leid, aber das geht nicht.« Jessica stand immer noch unschlüssig auf der Straße, die Wut über mein Benehmen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Och, nur ein paar Minütchen.«
Ich schüttelte den Kopf und ging zurück zu Jessica.
»Komm, jetzt gehen wir was essen«, sagte ich, sah sie dabei jedoch kaum an. Zwar schien ich für den Augenblick aus meinem Zombiezustand erlöst, aber ich war noch immer weit weg. Denn das vertraute Gefühl von Taubheit und Leblosigkeit wollte sich nicht wieder einstellen, und meine Angst wuchs mit jeder Minute.
»Was hast du dir bloß gedacht?«, fuhr Jessica mich an. »Du kanntest die doch gar nicht – das hätten auch Psychopathen sein können!«
Ich zuckte die Schultern und hoffte, sie würde davon aufhören. »Der eine kam mir bekannt vor.«
»Du bist so abgedreht, Bella Swan. Ich hab das Gefühl, ich kenne dich gar nicht.«
»Tut mir leid.« Etwas anderes fiel mir nicht ein.
Schweigend marschierten wir zu McDonald’s. Bestimmt bereute sie, dass wir die kurze Strecke vom Kino zu Fuß gegangen waren, anstatt das Auto zu nehmen, dann hätten wir bestellen und schnell weiterfahren können. Jetzt ging es ihr, wie es mir von Anfang an gegangen war: Sie sehnte das Ende des Abends herbei.
Beim Essen versuchte ich ein paarmal ein Gespräch anzufangen, aber Jessica ging nicht darauf ein.
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