Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
Offenbar hatte ich sie wirklich gekränkt.
Als wir wieder im Auto saßen, stellte sie ihren Lieblingssender ein und drehte die Musik so laut, dass eine Unterhaltung unmöglich war.
Ich musste mich nicht so sehr anstrengen wie sonst, um die Musik zu ignorieren. Zwar fehlte ausnahmsweise einmal die Taubheit, aber jetzt musste ich über zu vieles nachdenken, um auf die Songs zu achten.
Ich wartete darauf, dass sich das dumpfe Gefühl wieder einstellte oder der Schmerz. Denn der Schmerz musste kommen. Ich hatte meine wichtigsten Regeln gebrochen. Anstatt den Erinnerungen aus dem Weg zu gehen, hatte ich sie mit offenen Armen empfangen. Ich hatte seine Stimme überdeutlich gehört. Dafür würde ich büßen, da war ich mir sicher. Vor allem wenn ich den schützenden Nebel nicht zurückholen konnte. Ich fühlte mich zu wach, und das machte mir Angst.
Doch das stärkste Gefühl war immer noch die Erleichterung – und dieses Gefühl kam aus meinem tiefsten Innern.
So krampfhaft ich es auch vermied, an ihn zu denken, so wollte ich ihn doch nicht vergessen . Spätnachts, wenn der Schlafentzug meine Widerstandskräfte schwächte, machte ich mir manchmal Sorgen, dass mir alles entgleiten könnte. Dass mein Gedächtnis tatsächlich ein Sieb war und ich mich eines Tages nicht mehr an die Farbe seiner Augen erinnern konnte, an seine kühle Haut oder den Klang seiner Stimme. An all das durfte ich nicht denken , aber ich wollte mich daran erinnern .
Denn es gab nur eins, woran ich glauben musste, um weiterleben zu können – ich musste wissen, dass es ihn gab. Mehr nicht. Alles andere konnte ich ertragen. Solange es ihn nur gab.
Deshalb war ich mehr denn je in Forks gefangen, deshalb hatte ich mit Charlie gestritten, als er mir vorschlug wegzuziehen. Eigentlich dürfte es keine Rolle spielen, keiner von ihnen würde je hierher zurückkommen.
Aber wie sollte ich mir in Jacksonville oder an einem anderen sonnigen, fremden Ort sicher sein, dass es ihn wirklich gab? An einem Ort, wo ich ihn mir nicht vorstellen konnte, würde diese Überzeugung vielleicht schwinden … und das würde ich nicht überleben.
Die verbotene Erinnerung und die Angst, zu vergessen – es war ein schmaler Grat, auf dem ich mich bewegte.
Als Jessica vor unserem Haus hielt, war ich überrascht. Die Fahrt hatte nicht lang gedauert, aber ich hätte es Jessica trotzdem nie zugetraut, dass sie so lange den Mund halten konnte.
»Danke für den Abend, Jess«, sagte ich, als ich die Beifahrertür öffnete. »Es war … nett.« Ich hoffte, dass nett das passende Wort war.
»Klar«, murmelte sie.
»Die Sache nach dem Kino … das tut mir leid.«
»Egal, Bella.« Anstatt mich anzusehen, starrte sie zur Windschutzscheibe hinaus. Ich hatte den Eindruck, dass sie immer noch wütend auf mich war.
»Bis Montag dann.«
»Ja. Tschüss.«
Ich gab es auf und schlug die Tür zu. Sie fuhr ab, ohne sich auch nur einmal zu mir umzudrehen.
Als ich im Haus war, hatte ich sie schon vergessen.
Charlie stand im Flur und wartete auf mich, die Arme fest vor der Brust verschränkt, die Hände zu Fäusten geballt.
»Hi, Dad«, sagte ich gedankenverloren, während ich an ihm vorbei zur Treppe huschte. Ich hatte allzu lange an ihn gedacht, und ich wollte oben sein, bevor es mich wieder einholte.
»Wo warst du?«, fragte Charlie.
Ich schaute ihn überrascht an. »Ich war mit Jessica im Kino in Port Angeles. Hab ich dir doch heute Morgen erzählt.«
»Hmpf«, grummelte er.
»Ist doch in Ordnung, oder?«
Er schaute mich prüfend an, und seine Augen wurden größer, als hätte er in meinem Gesicht etwas Überraschendes entdeckt. »Ja, natürlich. Hattest du einen schönen Abend?«
»O ja«, sagte ich. »Wir haben uns menschenfressende Zombies angeguckt. Das war super.«
Seine Augen wurden schmal.
»Gute Nacht, Dad.«
Er ließ mich durch. Schnell lief ich hoch in mein Zimmer.
Wenige Minuten später lag ich im Bett und überließ mich resigniert dem Schmerz, der sich schließlich meldete.
Es war ein lähmendes Gefühl, als hätte mir jemand ein riesiges Loch in die Brust geschlagen, die wichtigsten Organe herausgeschnitten und klaffende Wunden hinterlassen, die einfach nicht aufhören wollten zu pochen und zu bluten. Mein Verstand sagte mir, dass meine Lunge funktionierte, trotzdem rang ich nach Luft, und in meinem Kopf drehte es sich. Auch mein Herz schlug wohl, doch ich spürte keinen Puls, und meine Hände fühlten sich an, als wären sie blau gefroren. Ich rollte mich
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