Bis(s) 2 - Bis(s) zur Mittagsstunde
hatte seinen Zweck erfüllt. Ich hatte mein Versprechen gebrochen. Ich war unnötig waghalsig gewesen. Jetzt, da wir beide wortbrüchig geworden waren, kam ich mir nicht mehr ganz so jämmerlich vor.
Und ich hatte den Schlüssel zu den Halluzinationen gefunden! Das hoffte ich jedenfalls. Ich nahm mir vor, die Theorie so bald wie möglich zu überprüfen. Vielleicht ging in der Notaufnahme alles ganz schnell und ich konnte es heute Abend schon wieder ausprobieren.
Es war großartig gewesen, die Straße entlangzusausen. Der Wind im Gesicht, die Geschwindigkeit, das Gefühl von Freiheit … das erinnerte mich an früher, als ich durch den dichten Wald geflogen war, huckepack auf seinem Rücken, während er rannte – an dieser Stelle hörte ich auf zu denken, weil die Erinnerung plötzlich zu weh tat. Ich zuckte zusammen.
»Geht es?«, fragte Jacob.
»Ja.« Ich versuchte es genauso überzeugend klingen zu lassen wie vorher.
»Übrigens«, sagte er dann, »werde ich heute Abend dein Bremspedal außer Kraft setzen.«
Zu Hause betrachtete ich mich als Erstes im Spiegel, ich sah ziemlich schaurig aus. Dicke, halb getrocknete Blutspuren an den Wangen und am Hals, die dreckigen Haare blutverklebt. Ich betrachtete alles ganz genau und stellte mir vor, das Blut wäre Farbe, damit mir nicht schlecht wurde. Ich atmete durch den Mund, so war es erträglich.
Ich wusch mich, so gut es ging. Dann stopfte ich die schmutzigen, blutigen Kleider ganz unten in meinen Wäschekorb, zog neue Jeans und ein durchgeknöpftes T-Shirt an (das musste ich nicht über den Kopf ziehen). Ich war ganz vorsichtig und schaffte das Ganze einhändig, ohne die Klamotten vollzuschmieren.
»Beeil dich!«, rief Jacob.
»Jaja«, rief ich zurück. Ich überprüfte, ob ich auch keine Spuren hinterlassen hatte, und ging die Treppe runter.
»Wie seh ich aus?«, fragte ich.
»Besser«, gab er zu.
»Seh ich so aus, als wäre ich in deiner Werkstatt gestolpert und hätte mir den Kopf an einem Hammer aufgeschlagen?«
»Ja, schon möglich.«
»Dann können wir los.«
Jacob drängte mich zur Tür hinaus und bestand darauf zu fahren. Wir waren schon auf halbem Weg zum Krankenhaus, als mir auffiel, dass er immer noch ohne T-Shirt war.
Ich machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Wir hätten eine Jacke für dich mitnehmen sollen.«
»Damit hätten wir uns aber verraten«, scherzte er. »Außerdem ist es gar nicht kalt.«
»Machst du Witze?« Ich zitterte und stellte die Heizung an.
Ich schaute Jacob an, um zu sehen, ob er nur den harten Mann markierte, damit ich mir keine Sorgen machte, aber er schien tatsächlich nicht zu frieren. Er hatte einen Arm über die Lehne meines Sitzes gelegt, während ich mich zusammengekauert hatte, damit mir warm wurde.
Jacob sah wirklich älter aus als sechzehn – nicht gerade wie vierzig, aber vielleicht sogar älter als ich. Was die Muskeln anging, war Quil ihm gar nicht so überlegen, auch wenn Jacob sich immer als Spargeltarzan bezeichnete. Die Muskeln unter seiner weichen Haut waren zwar eher lang und drahtig, aber zweifellos vorhanden. Seine Haut hatte eine so schöne Farbe, dass ich ganz neidisch wurde.
Jacob merkte, dass ich ihn beobachtete.
»Was ist?«, fragte er. Auf einmal war er befangen.
»Nichts. Es war mir nur bisher nicht aufgefallen. Weißt du, dass du irgendwie schön bist?«
Als die Worte heraus waren, hatte ich Angst, er könnte meine spontane Bemerkung falsch verstehen.
Aber er verdrehte nur die Augen. »Du hast dir den Kopf aber ziemlich fest gestoßen, was?«
»Nein, im Ernst.«
»Na dann, danke schön. Irgendwie.«
Ich grinste. »Irgendwie gern geschehen.«
Die Wunde an der Stirn musste mit sieben Stichen genäht werden. Abgesehen von dem Piksen der Betäubungsspritze tat es überhaupt nicht weh. Jacob hielt meine Hand, während Dr. Snow nähte, und ich versuchte, nicht an die Ironie der Situation zu denken.
Wir waren eine Ewigkeit im Krankenhaus. Als ich endlich fertig war, musste ich Jacob nach Hause bringen und dann schnell zurückfahren, um das Abendessen für Charlie vorzubereiten. Charlie schien mir die Geschichte abzukaufen, dass ich in Jacobs Werkstatt gefallen war. Schließlich hatte ich es früher auch ohne Motorrad schon des Öfteren in die Notaufnahme geschafft.
Diese Nacht war nicht so schlimm wie die Nacht nach dem Abend in Port Angeles, als ich die Traumstimme zum ersten Mal gehört hatte. Das Loch war wieder da, wie immer, wenn ich nicht mit Jacob zusammen war, aber es
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