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Biss der Wölfin: Roman

Biss der Wölfin: Roman

Titel: Biss der Wölfin: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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unvorstellbar, dass sich mein Gehirn kurzschloss. Mein eigenes Keuchen hallte mir in den Ohren. Dann fühlte ich Eis unter den Fingern und der Wange und kam schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Ich lag halb auf dem Eis, es war Gott sei Dank fest …
    Ohne auch nur ein warnendes Knacken von sich zu geben, brach das Stück ab und fiel in den Fluss, während ich mich noch daran festhielt. Ich fühlte, wie das Wasser über mich hinwegschwappte, so kalt, dass es sich anfühlte wie ein Eispickel im Hirn. Und dann gar nichts mehr.
    Als ich wieder zu mir kam, wurde ich unter der Wasseroberfläche von der Strömung flussabwärts gerissen. Ich kämpfte; ich drehte und wand mich, aber es war, als triebe man durchs All. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung oben war. Die Kälte war unbeschreiblich, und mein mühsam funktionierendes Hirn konnte nur noch ein paar Statistiken herunterstammeln.
    Man brauchte zwanzig Minuten, um in eiskaltem Wasser zu sterben. Oder waren es zwei Minuten? Nein, es mussten zehn sein. Mindestens zehn. Bitte, lass es doch zehn sein.
    Irgendwann bekam ich die Augen weit genug auf, um die Richtung nach oben erkennen zu können – es war dort etwas heller als in allen anderen Richtungen. Ich stieß mich auf die Helligkeit zu. Aufwärts, aufwärts …
    Meine Fäuste krachten gegen massives Eis.
    Ich schlug weiter zu, der Freiheit so nahe, während die Statistiken in meinem Hirn kreisten wie die Geier. Aber es war, als versuchte man, ein Fenster mit einer Feder einzuschlagen. Meine Superkräfte machten keinen Unterschied. Das Wasser erlaubte mir nicht, mit genug Schwung zuzuschlagen, um die Eisdecke aufzubrechen.
    Ich war gefangen, und es gab nichts auf der Welt, das ich da hätte tun können. Meine ganze Kraft, all meine Fähigkeiten, mein ganzer Überlebensinstinkt – alles war hier nutzlos.
    Es heißt doch immer, wenn wir sterben, blitzen die Gesichter derjenigen, die wir lieben, vor unseren Augen auf. Ich wünschte mir das. Ich wünschte es mir verzweifelt. Alle, an denen mir lag – Clay, meine Kinder, Jeremy, mein Rudel, meine Freunde.
    Aber mein Gehirn tat mir den Gefallen nicht. Es brüllte einfach weiter, dass ich sterben würde und dass ich etwas unternehmen sollte.
    Ich öffnete die Augen wieder einen Schlitz weit und sah einen Flecken Eis über mir, der heller war als der Rest, so, als könne ich den Schnee auf der anderen Seite sehen. Ich schwamm darauf zu, kämpfte gegen die Strömung an, kam kaum voran, aber ich arbeitete mich weiter, Zoll um Zoll. Ich wusste, der Fleck war vermutlich eine Illusion, vielleicht der Widerschein eines Sterns durch das dicke Eis. Ich wusste, wahrscheinlich würde ich es so weit nicht einmal schaffen.
    Und dann sah ich die Gesichter meiner Familie wirklich, kein lächelndes, tröstendes letztes Porträt, sondern Kates blaue Augen, wild vor Panik, Logans dunkel vor Sorge, Clays flammend vor Wut, als er mich anfauchte, ich sollte aufhören zu glauben, dass ich es nicht schaffen könnte, aufhören, mir vorzustellen, dass dort kein Loch war, einfach schwimmen, verdammt noch mal, schwimmen!
    Ich griff nach oben. Meine Hände durchstießen die Wasseroberfläche und landeten auf einer Kante, so scharf wie eine Klinge. Ich packte sie, aber das Eis zersplitterte unter meinen Fingern.
    Ich stieß den Kopf nach oben, aus dem Wasser heraus, und keuchte. Die Luft fühlte sich an wie ein rotglühender Schürhaken, der meine Kehle hinunterfuhr; der Schmerz ließ mich fast das Bewusstsein verlieren. Aber ich hielt den Kopf über Wasser, bis ich wieder zu Atem gekommen war, und tastete mich dann an der Kante des Eislochs entlang. Ich fand die Stelle, wo die Eisschicht am dicksten war, und schaffte es, mit der Brust auf die Eisfläche zu kommen. Aber als ich versuchte, mich weiter nach oben zu schieben, begann das Eis zu stöhnen und zu brechen.
    »Halt still!«, schrie eine Stimme.
    Ich drehte den Kopf und sah eine Gestalt am Ufer entlangrennen. Es war Noah; er zog sich im Rennen die Jacke aus. Ich versuchte, mich weiter aufs Eis zu schieben.
    »Halt still!«, brüllte er. »Wenn es bricht, gehst du unter und kommst nicht wieder rauf.«
    Er blieb mir gegenüber stehen und schob sich so weit auf das Eis hinaus, wie er es für sicher hielt. Er prüfte die Oberfläche, indem er vor und zurück wippte, und ging dann in die Hocke. Er hielt seine Jacke an einem Ärmel fest und warf sie mir zu. Der zweite Ärmel segelte wie ein Seil auf mich zu … und landete zwanzig

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