Bissgeschick um Mitternacht
der Sturm. Im ersten Moment verschlug ihnen die Wucht des kalten Windes den Atem. In ihren Ohren dröhnte es, dass sie befürchteten, ihre Trommelfelle würden jeden Moment platzen. Es rauschte, brodelte und toste, als wären sie mitten in den Urknall geraten.
Doch nicht nur der peitschende, eisige Wind schlug ihnen mit ganzer Macht entgegen. Dinge, die normalerweise nichts in den oberen Luftschichten zu suchen hatten, waren vom rasenden Windstrudel mitgerissen worden. Äste flogen an ihnen vorbei, Brotbüchsen und Meerschweinchen. Eine Badewanne verfehlte Mihais Kopf nur um wenige Zentimeter. Oma Zezci fing mit ihrem ausgestreckten Arm einen Fleischklopfer auf. Doch sie ließen sich nicht beirren. Selbst nicht, als eine Kuh vorbeiflog. Es war wichtig, dass sie die Fluggeschwindigkeit hielten, lebenswichtig. Sie mussten mit ganzer Kraft und beharrlich auf das Auge des Orkans zustürmen, sonst würden sie vom tosenden Strudel mitgerissen werden und womöglich nie mehr herauskommen.
Sie würden zum Teil des Orkans werden, der die Stadt Bindburg verwüstete. Zum Teil des Orkans, der Silvania und Daka aus dem Leben riss.
Es dauerte nur Sekunden, kam ihnen aber wie Stunden vor, bis die schwarzgraue Wolke sich um sie herum langsam auflöste. Die Äste, Badewannen und Kühe wurden immer seltener. Die aufgewirbelten Erdklumpen und Sandkörner wurden immer feiner, bis sie ganz verschwanden. Der Strudel verlor an Sogkraft. Der Wind wurde schwächer. Der Nachthimmel um sie herum wurde wieder klarer.
Nach fünf weiteren Metern hatten es Oma Zezci und Mihai geschafft – sie waren in der Mitte des Sturms, im Auge des Orkans. Sie hatten den tosenden Wirbelsturm und das Rauschen hinter sich gelassen, es schien weit weg. Es war nahezu windstill.
Einen Moment verschnauften Oma Zezci und Mihai Tepes. Oma Zezci wischte sich ein paar Krümel Gartenerde aus dem Gesicht und Mihai einen Waschlappen, der im Sturm auf seiner rechten Wange gelandet war.
Dann schob Oma Zezci ihre Fliegerbrille auf die Stirn.
Mihai Tepes klappte seinen Lakritzschnauzer wieder nach unten.
Sie sahen sich im Auge des Orkans um. Es dauerte einen Moment, bis sie nach dem rasanten Flug durch den Wirbelsturm wieder die Orientierung gewonnen hatten.
»Das ist er!« Oma Zezci deutete mit dem Kinn auf eine große, kräftige Gestalt nur wenige Luftmeter von ihnen entfernt. »Blodtørst. Mein Pokerpartner. Das Auge des Orkans.«
Der Vampyr Blodtørst hatte ihnen den breiten Rücken zugewandt. Er wedelte ungestüm und unablässig mit den muskulösen Armen und verursachte damit einen gewaltigen Wind. Einen Wind, der zum Orkan wurde und zur Bedrohung für die Vampirschwestern – und für ganz Bindburg.
Blodtørst schwebte im Auge des Orkans wie ein nordischer Gott. Er sah mächtig, tollkühn und unbezwingbar aus. Seine langen roten Haare, die er mit Möwenfedern zu zwei Zöpfen gebunden hatte, leuchteten wie lodernde Flammen.
»Und jetzt?«, fragte Mihai.
»Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass er sofort mit dem Armgewedel aufhört, sonst erreicht der Orkan wirklich bald Bindburg«, erwiderte Oma Zezci.
»Beißen und Aussaugen kommt ja wohl nicht infrage«, murmelte Mihai Tepes.
Oma Zezci machte ein nachdenkliches Gesicht. Dabei sah sie einen Moment nach unten. Ihr Blick fiel auf Mihais Füße und ihr Gesicht hellte sich auf einmal auf. »Wir fangen ihn ein. Und zwar damit!«
Sie zeigte auf ein Netz, das am rechten Fuß ihres Sohnes hing. Es war das Zahnseidennetz von Dirk van Kombast. Offenbar hatte sich Mihai Tepes beim überstürzten Abflug darin mit dem Fuß verfangen und es die ganze Zeit über mit sich geschleift. Im Netz hatten sich beim Flug durch die Wirbelwolke eine Trompete, eine Klobürste und eine knallrote Federboa verheddert, aber ansonsten sah es noch tadellos aus.
Oma Zezci nahm das eine Ende des Netzes fest in beide Hände und Mihai Tepes das andere Ende. »Wir müssen uns den Überraschungseffekt zunutze machen«, sagte Oma Zezci. »Blodtørst darf uns erst bemerken, wenn sich das Netz schon um ihn schließt.«
Mihai nickte. »Onu, zoi, trosch!«, rief er dann und sie stürzten auf den aufbrausenden nordischen Vampyr zu.
Blodtørst war so beschäftigt mit Windmachen, dass er nichts von den beiden Angreifern hinter seinem Rücken mitbekam. Er wedelte mit den kräftigen Armen, berauschte sich an seiner Macht. Er war der Herrscher der Winde, er war das Auge eines gewaltigen Orkans. Ein Orkan, der alles mitreißen und eine gewisse
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