Bissgeschick um Mitternacht
eine gewaltige Mähne versprach.
»Ach ja?«, schnaubte Oma Zezci. »Jetzt tu mal nicht so, als wärest du die Unschuld vom Stumpbjerger-Lande. Denn was, bitteschön, war das neulich vor 589 Jahren, als du mich vor deiner Höhle im Regen stehen gelassen hast?« Oma Zezci stemmte die Hände in die knochigen Hüften.
»Da war ich nicht zu Hause«, erwiderte Blod-tørst.
»Gumox. Jetzt verstrickst du dich auch noch in Lügen!«, zeterte Oma Zezci.
»Rück du lieber erst mal die Blutwurstchips raus, die du mir schuldest!«, polterte Blodtørst.
»Ich dir? Du schuldest mir 15 frische Blutkonserven, mein Lieber. Um die haben wir bei unserem Spiel vor 352 Jahren gewettet – schon vergessen?« Oma Zezci lächelte wie eine ausgepresste Zitrone.
Mihai Tepes sah zwischen seiner Mutter und dem Vampyr hin und her. Langsam wurde es ihm zu bunt. Er hatte nichts gegen einen ordentlichen Streit. Im Gegenteil. Manchmal war so ein Streit sogar sehr reinigend und harmoniefördernd. Aber er wollte nach Hause zu seiner Frau, die sich sicher schon Sorgen machte. Würde sie nicht bald etwas von ihm hören, wäre die Harmonie bei den Tepes im Eimer. Er musste die beiden Streithähne zur Ruhe bringen, rapedadi.
»Struuuunz!«, brüllte er mitten in das Wortgefecht der anderen.
Oma Zezci und Blodtørst verstummten augenblicklich und sahen Mihai an, als würden sie erst jetzt bemerken, dass er auch auf dem Dach des Hochhauses stand. Mihai trat an Blodtørst heran und kniete sich neben ihn. »Können wir das alles nicht wie vernünftige, erwachsene Vampire miteinander klären?« Dabei zog er ein kleines Fläschchen Karpovka aus der Innentasche seines Umhangs, das er meistens für Notfälle (plötzliches Heimweh, Stau in allen Luftschichten, Streit mit einem nordischen Vampyr auf dem Dach eines Hochhauses mitten in der Nacht) bei sich trug.
Das Gesicht von Blodtørst, das bis eben ausgesehen hatte wie der zerknitterte Popo eines Pavianaffens, verwandelte sich in ein Abbild eines frisch gewickelten, glücklichen, sabbernden Babys. Karpovka, der transsilvanische Schnaps mit der Afterraupe, galt unter Vampiren weltweit als Delikatesse. Auf Stumpbjergen war er leider nur sehr schlecht erhältlich. Der fliegende Händler, der einmal in 200 Jahren vorbeikam, hatte Karpovka selbstverständlich im Angebot. Aber Stumpbjergen war immer der letzte Halt auf seiner langen Geschäftsreise und meistens war der Karpovka schon ausverkauft. (Die Löwenspeichelspülung ebenso.)
So kam es, dass Oma Zezci, Mihai und Blodtørst kurz darauf auf dem Dach des Hochhauses saßen, die Beine am Rand baumeln ließen, »Schnappobyx!« riefen, anstießen und die Gläser leerten (die Oma Zezci kurzerhand mit stummer Zustimmung des nicht anwesenden Personals aus dem geschlossenen Café ausgeliehen hatte).
Oma Zezci gestand nach dem ersten Gläschen Karpovka, dass sie Blodtørst beim Pokerspiel betrogen hatte. Nach dem zweiten Gläschen verriet sie ihm ihren Trick. Und nach dem dritten und letzten Karpovka beschlossen Zezcilia und Blodtørst, sich gegenseitig ihre Tricks beizubringen und von jetzt an nur noch andere Mitspieler gemeinsam zu beschummeln.
Mit diesem viel versprechenden, edelmütigen Plan verabschiedete sich Oma Zezci von ihrem Pokerpartner aus dem Norden. Zezcilia kündigte an, schon sehr bald wieder in Stumpbjergen zu landen. Die drei Vampire sagten einander mit mehreren herzlichen Kopfnüssen auf dem Dach des Hochhauses Azdio. Dann zog Blodtørst seinen Helm tiefer ins Gesicht, band die Zöpfe darüber wie zum Propeller zusammen und flog Richtung Polarmeer davon. Ab und zu machte er einen kleinen Schlenker nach rechts oder links und kicherte dabei.
Oma Zezci und Mihai Tepes machten ebenfalls den Abflug. Sie steuerten den Lindenweg in der Reihenhaussiedlung an. Mihai konnte es kaum erwarten, seiner Frau zu erzählen, dass sie den Orkan aufgehalten hatten und dass ihre Töchter nicht mehr in Gefahr waren.
Oma Zezci war überglücklich, ihre Enkelinnen wieder in Sicherheit zu wissen. Sie hoffte nur, dass ihr bis morgen früh wieder einfiel, wo genau sie in Sicherheit waren.
Nur die Meteorologen in der 25. Etage des Hochhauses machten keine glücklichen Gesichter. Sie wussten noch nicht, dass sich das Problem, worüber sie gerade nachdachten, bereits in Luft aufgelöst hatte.
Wasser-Vision
L udo Schwarzer stand kopfüber in seinem Zimmer. Sein Kopf ruhte auf einem Buch, das den Titel ›Kleiner Ratgeber zum Seelenfrieden‹ trug. Der Ratgeber schlug
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