Bissgeschick um Mitternacht
eine breitgelatschte Pflaume. Plötzlich wanderten die Mundwinkel jedoch wieder nach oben. »Nein! Gibt es doch! Wenn man direkt vor dem Bootshaus steht, sieht man im Hintergrund den Felsen vom Stadtschloss auf der anderen Uferseite.«
Ludo brauchte nur eine Sekunde, um sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Dann sprang er gleichzeitig mit Helene aufs Longboard und sie rauschten durch die Fußgängerzone in Richtung Lauer Grund.
Im finsteren
Lauen Grund
L udo hatte das Longboard an einen Baum gelehnt und stehen lassen. Der Boden im Lauen Grund war von Gräsern, Steinen und Ästen bedeckt und zu uneben zum Skaten. Der Rasen raschelte unter Ludos und Helenes Füßen, als sie auf das Bootshaus am Ufer der Bindau zurannten.
Das ehemalige Wirtshaus wirkte auf dem dunkelblauen Nachthimmel wie eine große schwarze Kulisse. Eine Kulisse für ein Drama oder einen Krimi. Ein kleiner hölzerner Steg führte vom Bootshaus zu einem ruhigen Seitenarm der Bindau. Der Zugang zum Steg wurde durch ein eisernes Tor versperrt. Links und rechts vom Tor standen Drahtstachel in die Luft, die wie widerborstige Pranken aussahen.
Ein paar Schritte vor dem Bootshaus blieben Helene und Ludo stehen. »Alles total verlassen«, sagte Ludo und deutete mit dem Kinn auf die Tür. Sie war mit zwei langen Holzplanken über Kreuz zugenagelt. Ebenso die beiden kleinen Fenster links und rechts der Tür.
»Eben. Ein guter Ort, um sich in Ruhe zu verpuppen«, meinte Helene.
»Und jetzt?«, flüsterte Ludo.
»Umsehen und immer schön nach oben gucken«, erwiderte Helene leise. »Irgendwo müssen sie baumeln.«
»Warum flüsterst du?«, fragte Ludo.
»Ich? Du flüsterst«, sagte Helene.
»Quatsch«, sagte Ludo laut. Wie ein Soldat machte er eine schwungvolle Kehrtwende und marschierte auf eine Baumgruppe zu, den Blick nach oben gerichtet.
Helene lief derweil um das Bootshaus herum, falls die Vampirschwestern dort an der Dachrinne hingen. »Silvania? Daka? Seid ihr hier irgendwo?« Ihr Blick fiel auf den Seitenarm der Bindau. Das Wasser floss ruhig dahin. In der Dunkelheit sah es aus wie flüssige Lakritze. Doch bald würde die Bindau wild und weiß schäumen. Bald würden gewaltige Wassermassen über den kleinen Steg und das Bootshaus herfallen, sie zerstören und die Trümmer mit sich reißen. Ihnen blieben nur noch Minuten. Wenn sie Silvania und Daka nicht bald fanden, waren sie verloren.
Plötzlich fuhr ein beängstigender Schrei wie ein Torpedo in den Nachthimmel über dem Lauen Grund.
Helene zuckte zusammen, fuhr herum und rannte auf die Baumgruppe zu, zu der Ludo gegangen war. »Ludo? Alles in Ordnung?«
Ludo saß unter einem Baum, rieb sich den Kopf und blinzelte. Einen Moment meinte Helene sogar, kleine Sternchen um seinen Kopf herumschwirren zu sehen.
Ludo zeigte auf eine Latte. »Die Latte lag auf dem Baumstumpf, auf ihr lag eine Dolle, ich bin auf die Latte getreten, die Dolle ist nach oben in den Baum gesegelt, hat einen Apfel abgeschossen und der ist mir auf den Kopf gefallen.«
Helene legte den Kopf schräg und betrachtete Ludo einen Moment. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Alles kannst du eben auch nicht voraussehen.«
Ludo rappelte sich auf. »Aber ich habe etwas viel Wichtigeres vorausgesehen. Der Schlag vom Apfel hat wieder eine Vision ausgelöst.« Ludo hatte die ockerfarbenen Augen weit aufgerissen und sah Helene alarmiert an. »Ich weiß jetzt, dass wir Silvania und Daka nicht nur finden müssen, um ihr Leben zu retten, sondern auch, damit sie uns retten.«
»Uns? Sind wir denn ...«, Helene schielte nach links und rechts in die Dunkelheit, »... in Gefahr?«
»Nicht nur wir, alle, die ganze Stadt. Zusammen mit Silvania und Daka können wir die Flutwelle aufhalten«, fuhr Ludo fort.
»Die Flutwelle aufhalten? Wie soll denn das gehen?«
Ludo kratzte sich hinterm Ohr. »Das habe ich leider nicht so deutlich gesehen. Ich weiß nur, dass wir dabei zusammen mit Silvania und Daka auf einer Gusseisenbrücke stehen. Dazu müssen wir die beiden natürlich erst mal finden. Aber wir sind am falschen Ort, Helene.«
»Du hast noch etwas gesehen?«, fragte Helene.
Ludo nickte. »Gitter.«
Helene überlegte nur eine Sekunde. »Das Zuchthaus! Silvania und Daka hängen im Zuchthaus – oder davor.«
Die beiden Freunde eilten durch den Lauen Grund und hatten mit wenigen schnellen Schritten wieder das Longboard erreicht. Sie sprangen auf und schossen über den asphaltierten Hauptweg zurück in die westliche
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