Bissige Gäste im Anflug
seit mehreren Stunden, hatte das Essstäbchen in den Gips gesteckt und bewegte es von Zeit zu Zeit.
Obwohl er müde war, wagte er es nicht, die Augen zu schließen. Sein Blick flog alle paar Sekunden zum Wohnzimmerfenster, von dem aus er das Nachbarhaus beobachtete. Nicht das Haus, in dem die barmherzige Nachbarin wohnte, die ihn unter dem Apfelbaum gefunden hatte, sondern das letzte Reihenhaus im Lindenweg. Das Haus Nummer 23. Das Haus, in dem Familie Tepes wohnte.
Dirk van Kombast war vom Aufenthalt im rumänischen Gefängnis geschwächt, vom Flug auf dem Rücken eines Riesenvampirs angeschlagen, vom Sturz aus dem Apfelbaum verletzt und vom Gips eingeschränkt – doch er war ein Kämpfer. Auch nach einer Niederlage, auch, wenn er am Boden lag (beziehungsweise mit einem Gipsbein auf der brombeerfarbenen Wohnzimmercouch), er gab nicht auf. Sein Jagdinstinkt war bereits wieder geweckt.
Er hatte gesehen, wie Mihai Tepes kurz vor 23 Uhr das Haus verlassen hatte und mit dem flaschengrünen, alten Dacia davongefahren war. Kaum waren das Rumoren des Motors und das Knallen des Auspuffs verklungen, traten vier Gestalten auf die Terrasse des Nachbarhauses. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Dirk van Kombast sie im matten Licht der Terrassenbeleuchtung erkannte: Dakaria Tepes, Silvania Tepes, Helene Steinbrück und dieser Junge, der auch immer bei den Mädchen mit dabei war. Wenn Dirk van Kombast richtig gehört hatte, nannten die anderen ihn Luder. Ihm war nicht ganz klar, warum. Klar war nur, dass dieser Junge auch nicht ganz normal war. Keiner, der mit Vampiren oder Halbvampiren befreundet war, konnte das sein.
Schließlich war auch noch Frau Tepes auf die Terrasse getreten. Sie hatte ihre Töchter umarmt, als gingen sie auf eine sehr lange Reise. Und dann waren sie tatsächlich losgegangen, alle vier Kinder, einfach schnurgeradeaus auf das kleine Wäldchen zu, das sich im Norden an die Reihenhaussiedlung anschloss. Nach dem Wäldchen kam lange Zeit nichts mehr. Außer ein paar Hügel.
Wo wollten die Kinder hin? Gab es in dem Wäldchen ein geheimes Jungvampirtreffen?
Dirk van Kombast sah den Kindern nach, bis sie vollkommen von der Dunkelheit verschluckt wurden. Einen winzigen Augenblick meinte er, noch etwas anderes zu sehen. Etwas Großes, Dunkles, das sich geräuschlos durch die Nacht bewegte und den Kindern folgte, mit gewaltigen schwarzen Schwingen. Wie ein Rochen im Ozean. Doch als er zur Terrassentür hüpfte, um besser sehen zu können, war es verschwunden.
Er dachte an Urio Transgoliato. Sein Magen zog sich zu einem Pingpongball zusammen. Auf einmal war er froh, dass ihn der Gips an einem nächtlichen Spaziergang hinderte und er den Kindern nicht in den Wald folgen konnte. Nein, er würde die Nacht auf der Wohnzimmercouch verbringen. Er würde sein Abhörgerät – das »Vampire-Best-Bye-Bug«, das er sich beim letzten Vampirologenkongress in New York gekauft hatte – aufstellen und abwarten, was geschah.
Leider lag sein gesamter Knoblauchvorrat noch in einem Zelt irgendwo in den Wäldern Transsilvaniens. Er hatte es bei der Vampirjagd vor ein paar Tagen überstürzt verlassen müssen. Seit seiner stürmischen Heimkehr war er noch nicht dazu gekommen, den Knoblauchvorrat wieder aufzufüllen. Doch sollte es nötig sein, sollte seine Hilfe als Vampirjäger gebraucht werden, würde er sich auch ohne Knoblauch aus dem Haus wagen.
Dirk van Kombast war sich sicher, dass es dazu noch in dieser Nacht kommen würde.
Unterwegs zum
Knochenhügel
D er Mond, kühl, still und rund, schimmerte durch die Bäume. Sie hatten das Wäldchen hinter der Reihenhaussiedlung fast durchquert. Ab und zu fuhr eine leichte Windböe in die Baumkronen und ließ die Blätter rauschen wie Elfenhaar. Eine Eule stieß ihren Laut aus. Ansonsten hüllte sich der Wald in schwarzes Schweigen.
Ludos Blick huschte von einer Seite zur anderen. Er ging mit eingezogenem Kopf hinter Silvania, Daka und Helene her, hielt die Arme ein Stück vor dem Körper, jederzeit bereit, einen Angriff – von wem auch immer – abzuwehren. Den ganzen Tag über hatte er den furchtbaren Albtraum der letzten Nacht nicht abschütteln können. Dabei hatte er sich wirklich Mühe gegeben. Er hatte gelesen, im Garten Handstand geübt, Zuckerwürfel in einen Ameisenhaufen gesteckt, sich mit seinem Papa über Quantenchromodynamik unterhalten und seinem Opa beim Kochen einer Löwenzahn-Mohnsuppe geholfen. Alles vergebens. Sobald er auch nur eine Sekunde an nichts
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