Bisswunden
Bewegung ab. Sein Gesicht ist eine andere Geschichte: Es fällt mir schwer, sein Aussehen zu deuten. Ich bin noch nicht an die Narben gewöhnt.
»Dieseltreibstoff«, sagt er mit rauer Stimme.
»Was?«
»Mein Gesicht. Ich hab die Latrinen in einer Artilleriebasis sauber gemacht, als Charlie uns zu Weihnachten ein paar Mörsergranaten rübergeschickt hat. Wir haben unsere Scheiße immer mit Diesel verbrannt. Ich stand neben fünf brennenden Fässern, als die Granate einschlug. Der Luftdruck hat die Fässer umgerissen, und ich war plötzlich voller Scheiße und brennendem Diesel. Wäre wahrscheinlich ganz lustig gewesen, wenn ich nicht eine verdammte Infektion davon gekriegt hätte.«
»Das tut mir Leid.«
Er zwinkert zynisch, dann zieht er eine Packung Kool Menthol aus der Gesäßtasche. Er benutzt ein silbernes Feuerzeug, um sich eine anzustecken, inhaliert tief und bläst blauen Rauch über die Veranda. Er scheint sich auf eine längere Unterhaltung einzurichten. Nach einem weiteren tiefen Zug an der Zigarette richtet er seine dunklen Augen auf mich.
»Sie sind also hier, um mich nach Ihrem Daddy zu fragen?«
»Ich habe gehört, Sie hätten ihn ziemlich gut gekannt«, entgegne ich.
Jesse wirkt erheitert. »Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann. Aber Luke und ich haben eine ganze Weile zusammen rumgehangen. Ist schon lange her.«
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas darüber erzählen, was im Krieg mit ihm passiert ist.«
»Wissen Sie denn schon was?«
»Jemand hat mir erzählt, er wäre Scharfschütze gewesen. Das wusste ich nicht. Und jemand hat gesagt, er wäre bei einer Einheit gewesen, die beschuldigt wurde, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Wissen Sie irgendetwas darüber?«
Jesse schnaubt abfällig. » Kriegsverbrechen? Scheiße! Das ist der verrückteste Ausdruck, den ich je gehört hab! Der ganze Krieg ist ein beschissenes Verbrechen, von Anfang bis Ende! So einen Schwachsinn von wegen Kriegsverbrechen reden nur Leute, die absolut keine Ahnung haben.«
Ich weiß nicht genau, wie ich fortfahren soll. »Nun ja, es muss zumindest ein paar ungewöhnliche Vorkommnisse gegeben haben, wenn die Army erwogen hat, seine Einheit anzuklagen.«
»Ungewöhnlich?« Jesse lacht humorlos; es klingt wie ein Bellen. »Ja. Ungewöhnlich ist ein passendes Wort.«
»Können Sie mir mehr verraten?«
»Luke hat mir ein bisschen darüber erzählt. Er war ein Junge vom Land, verstehen Sie? Das hat ihn gleich in Schwierigkeiten gebracht. Er wusste, wie man schießt. Ich bin ein guter Schütze, aber Luke war ein echtes Ass mit dem Gewehr. Als wäre er mit einem Schießprügel zur Welt gekommen. Nach dem Krieg hat er keine Waffe mehr angefasst, nie wieder auf irgendwas geschossen, nicht mal auf Rotwild, um Proviant zu machen. Jedenfalls, die Army hat ihn zum Scharfschützen ausgebildet. Und er hat diesen Job ein paar Monate lang gemacht. Dann haben sie ihn in diese Spezialeinheit versetzt, zu den White Tigers. Angeblich alles nur Freiwillige, aber ich glaube, das Armeekommando hat mehr oder weniger jeden abkommandiert, den sie haben wollten. Und damit steckte der gute alte Lukie in der Scheiße.«
»Die White Tigers? Was war der Auftrag dieser Einheit?«
»Sie wurde nur aus einem einzigen Grund zusammengestellt. Vordringen auf feindliches Gebiet. Allerdings war dieses Vordringen nicht gerade legal. Die Tigers sind nach Kambodscha vorgestoßen, um den Vietkong da zu treffen, wo er sich vor unseren Bombern versteckt hat.«
»Wissen Sie, was dort geschah?«
»Die gleiche Scheiße wie überall sonst, nur schlimmer. Die Tigers sind von Dorf zu Dorf gezogen auf der Suche nach Waffen, Vietkong oder deren Sympathisanten. Nur dass sie nicht so vorgegangen sind wie die normale Infanterie. In Kambodscha haben sie nicht erst gewartet, bis Charlie auf sie geschossen hat. In Kambodscha sind sie vorgestoßen und haben die Leute in Todesangst versetzt, um sie daran zu hindern,Charlie zu helfen. Dem Feind keine Zuflucht gewähren und seine Nachschublinien unterbrechen, wie es offiziell hieß. Diese doppelzüngigen Mistkerle! Jedenfalls, sie hatten ein paar richtig miese Typen bei den Tigers. Strafversetzt aus anderen Pla-toons und so was. Kein Wunder, dass sie schlimmen Scheiß gemacht haben.«
»Was genau fällt in diese Kategorie?«
Jesse drückt seine Zigarette aus und zündet sich augenblicklich eine neue an. »Sie haben Stammeshäuptlinge und Sympathisanten von Charlie erschossen. Sie haben jeden bestraft, der im
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