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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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lacht. »An der ersten. Aber ich fahre mit diesem Truck nicht durch den Morast. Es gibt jetzt einen Kiesweg ins Camp, von Norden her.«
    Ich sehe den See, dunkelgrün unter den Wolken, mit kleinen Schaumkrönchen, die vom Wind aufgepeitscht werden. Henry biegt nach links ab und folgt einem Weg, der zwischen dem See und dem südlichen Rand des Waldes verläuft. Er winkt in Richtung einer Ansammlung von Hütten am See. Die Sonne steht bereits tief am Horizont, und auf den meisten Veranden sitzen die Leute in Schaukelstühlen, während die Kinder im Staub mit Katzen und Hunden umhertollen.
    »Da wären wir«, sagt Henry und biegt auf einen schmalen Kiesweg zwischen den Bäumen.
    »Wie ist Jesse denn so?«, frage ich.
    »Sie kennen ihn nicht?«
    »Nein.«
    »Jesse ist allen ein Rätsel. Früher war er der größte Faulpelz auf der Insel. Hat jede Menge Dope geraucht und ständig mit irgendwelchen Leuten geschwatzt. Aber heute ist er ein unglaublich harter Brocken. Ich weiß nicht, warum, aber so ist er.«
    »War es der Krieg?«
    Henry zuckt die breiten Schultern. »Wer weiß? Jesse redet nicht viel. Er arbeitet die meiste Zeit oder beaufsichtigt die Leute bei der Arbeit.«
    Eine Minute vergeht in Schweigen. Vor uns tauchen die Blockhäuser des Jagdcamps zwischen den Bäumen auf. Im Gegensatz zu den Hütten der Arbeiter, die zum größten Teil aus Schalbrettern und Dachpappe auf gemauerten kleinen Sockeln erbaut sind, bestehen die Jagdhütten aus massivem Zypressenholz, grau verwittert und hart wie Stahl. Die Dächer bestehen aus dunkelbraunem, korrodiertem Wellblech.
    »Da ist Jesse«, sagt Henry unvermittelt.
    Ich sehe niemanden, doch ein braunes Pferd ist an das Geländer der Veranda eines der Blockhäuser gebunden. Henry hält vor dem Blockhaus und hupt dreimal.
    Nichts rührt sich.
    »Er ist ganz bestimmt da«, sagt Henry.
    Und tatsächlich, ein drahtiger schwarzer Mann ohne Hemd kriecht unter einem der Blockhäuser hervor, steht auf und klopft sich den Staub ab. Zuerst sieht er aus wie hunderte anderer schwarzer Arbeiter auch. Dann wendet er sich um, und ich erblicke die rechte Hälfte seines Gesichts. Flecken hellrosafarbener Haut stechen hervor wie Farbspritzer, die sich von seiner rechten Schulter bis zur Schläfe ziehen. Seine Wange ist ein großer Krater aus Narbengewebe.
    »Er wurde drüben in Vietnam verbrannt«, sagt Henry. »Es sieht schlimm aus, aber wir haben uns inzwischen daran gewöhnt.«
    Henry beugt sich aus dem Fenster und ruft: »Hey, Jesse! Ich hab eine Lady bei mir, die mit dir reden will!«
    Jesse kommt zum Truck geschlendert – auf meine Seite, nicht die von Henry – und sieht mir in die Augen. Henry lässt die Scheibe auf meiner Seite herunter, und plötzlich sind zwischen meinem Gesicht und Jesse Billups’ Narben nur noch zwanzig Zentimeter Raum.
    »Was wollen Sie von mir?«, fragt er misstrauisch.
    »Ich möchte mit Ihnen über meinen Vater reden.«
    »Wer ist Ihr Vater?«
    »Luke Ferry.«
    Jesses Augen weiten sich; dann schnaubt er wie ein Pferd. »Verdammt. All die Jahre, und jetzt kommen Sie zurück? Ich hab Sie gekannt, als Sie ein kleines Mädchen waren. Ich kannte Ihre Mutter ziemlich gut. Wie sind Sie hier auf die Insel gekommen?«
    »Sie hat den Wagen auf der anderen Seite des Damms stehen«, sagt Henry. »Ich hab ihr gesagt, du würdest sie zurückbringen, wenn ihr fertig seid. Du bringst sie doch rüber, oder?«
    Jesse mustert mich eine Weile. »Ja, ich bring sie zurück«, sagt er dann.
    Er öffnet die Beifahrertür und hilft mir beim Aussteigen aus der hohen Kabine. Seine Hände sind rau und von dicken Schwielen bedeckt. Henry hupt ein letztes Mal, während er davonfährt, und Jesse führt mich zum ersten Blockhaus neben dem, wo sein Pferd angebunden steht.
    »Hard-Ass mag keine Fremden«, erklärt er.
    »Sie nennen Ihr Pferd Hard-Ass?«, frage ich verwundert.
    »Die Leute nennen mich hinter meinem Rücken so, also dachte ich, es kann nicht schaden, wenn ich sie wissen lasse, dass ich es weiß.«
    Er steigt zur Veranda hinauf und setzt sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Wand des Hauses. Ich setze mich auf die obere Treppenstufe und lehne mich gegen das Geländer. Es besteht kein Zweifel daran, dass Jesse Billups hart für seinen Lebensunterhalt schuftet. Er muss um die fünfzig sein, wenn er in Vietnam gedient hat, doch sein Bauch ist so flach und muskulös wie der eines Teenagers. Seine Arme wölben sich nicht, doch die langen Muskeln zeichnen sich bei jeder

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