Bisswunden
ein Mobiltelefon an seinem Gürtel. »Das hier ist alles, was wir haben, aber sie funktionieren nur die halbe Zeit. Deswegen haben wir immer noch Funkgeräte in den Trucks.«
Wir erreichen eine schlammige Stelle, und beinahe bricht das Heck des Wagens aus. Ich verkrampfe mich vor Angst, doch Henry lacht nur, während er den Truck wieder unter Kontrolle bringt.
»Haben Sie Angst?«, dröhnt er. »Fragen Sie mich mal, Lady. Wenn mein großer Hintern ins Wasser plumpst, bleibt nur noch Weinen.«
»Warum das?«
»Ich kann nicht schwimmen.«
Einige Leute hätten an meiner Stelle gelacht, doch ich kann nicht. Es macht mich traurig. Als wir uns dem Ufer nähern, platschen ein paar Regentropfen auf die Windschutzscheibe.
»Wird das Wasser über den Damm steigen?«, frage ich.
»Wahrscheinlich nicht, nein«, sagt Henry. »Allerdings ist es schon passiert. Aber der Regen braucht wenigstens noch eine Stunde, bevor es richtig losgeht.«
»Woher wissen Sie das?«
Er sieht mich an und tippt sich an die Nase. »Der Geruch. Die sollten mich bei Channel Sixteen einstellen. Ich bin um Längen besser als der Wettermann, den sie haben.«
»Es gibt also inzwischen Fernsehen hier draußen?«
»Satellit. Kein Kabel.«
Die Dinge haben sich tatsächlich verändert. Bei meinem letzten Besuch auf DeSalle Island war alles noch so primitiv wie in einer Höhle in den Appalachen. Zwei Dutzend primitive Hütten für die Arbeiter, die »Klinik« meines Großvaters und eine Anzahl von Schuppen und Scheunen für Werkzeuge und Material. Die meisten Hütten hatten Außentoiletten. Die einzigen Häuser mit »modernen« Sanitäranlagen waren das Jagdhaus meines Großvaters – ein Haus im Plantagenstil aus Zypressenstämmen mit Ausblick auf den See, entworfen von dem berühmten, in Louisiana ansässigen Architekten A. Hays Town – sowie die Klinik.
»Wir sind fast da«, sagt Henry in diesem Augenblick und gibt ein wenig mehr Gas.
Die Wand von Bäumen kommt näher, und ich erblicke einen kleinen Schuppen nahe beim Wasser. Ein eisiges Frösteln durchläuft mich. Wie fast jedes andere Gebäude auf DeSalle Island hat der Schuppen ein Wellblechdach. Das Fröstelnversiegt ein wenig, und plötzlich droht mein Herzschlag auszusetzen.
Neben dem Schuppen parkt der alte rostige Pick-up aus meinen Träumen.
27
I n dem Augenblick, als Henry Washingtons Truck auf die Schotterpiste rollt, die dem Ostufer der Insel folgt, spüre ich ein eigenartiges Trommeln in mir. Es ist, als würde Schwachstrom durch meine Nervenbahnen geleitet. Das Zittern meiner Hände, das mich in den letzten drei Jahren verfolgt hat, wird schlimmer.
Die Insel sieht aus wie immer, solange ich mich erinnern kann. Zypressen säumen das Ufer und wachsen aus dem flachen Wasser. Das Innere ist bewaldet mit Weiden und Riesenpappeln. Die Zypressen liegen zu meiner Rechten; wir fahren nach Norden. Ich will Henry nach dem alten Truck meines Großvaters fragen, doch ein Gefühl von Anspannung in der Brust hindert mich daran. Der Truck bleibt hinter uns zurück, und ich versuche mir den Grundriss der Insel ins Gedächtnis zu rufen.
Aus der Luft betrachtet sieht DeSalle Island wie eine verkürzte Version von Südamerika aus. Die Insel wird in der Mitte von einem hufeisenförmigen See, der früher einmal eine Biegung im Lauf des Mississippi war, fast in zwei Teile geteilt. Großvaters Jagdhaus steht am nördlichen Ufer des Sees, die Hütten der Arbeiter am südlichen. Westlich vom See liegen zweihundert Hektar Reisfelder. Der nördliche Teil der Insel ist Weideland, auf dem das Vieh zwischen den Ölpumpen grast. Im Süden befinden sich die Wälder, die wir jetzt durchqueren. Am Rand der Wälder, zwischen den Bäumen, befinden sichdie Wohnhütten und Lagerschuppen des Jagdcamps, und noch weiter unten – quasi im »Argentinien« unserer Insel – die niedrigen Sanddünen und Ebenen aus Flussschlamm, die sich bis zu der Stelle hinziehen, wo das alte Flussbett in den Mississippi mündet.
»Jesse war oben im Norden und hat nach streunenden Kühen gesucht«, sagt Henry, wobei er den Kopf schüttelt, als würde eine Arbeit wie diese ein gewisses Maß an Irrsinn erfordern. »Er hat gesagt, dass er danach irgendwelche Klempnerarbeiten im Jagdcamp erledigen wollte.«
Binnen weniger Sekunden stehen die Bäume zu meiner Linken weiter auseinander und geben den Blick frei auf den See und die Hütten, in denen die Arbeiter leben.
»Sind wir schon an der Straße zum Camp vorbei?«, frage ich.
Henry
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