Bisswunden
weitergeritten.«
So ärgerlich, wie die Frau vor mir aussieht, rechne ich damit, dass sie Jesse Billups mit Anschuldigungen wegen Misshandlungen oder einer Vaterschaft überhäuft. Doch nun, nachdem das Pferd steht, verhält sie sich, als existierte Jesse überhaupt nicht. Sie hat nur Augen für mich.
»Sind Sie Catherine Ferry?«, fragt sie.
»Das ist richtig.«
»Ich bin Louise Butler. Ich muss mit Ihnen reden.«
»Worüber?«
»Ihren Vater.«
»Kannten Sie ihn?«
»Das kann man wohl sagen.«
Ich schwinge das Bein über die Seite des Pferdes und lasse mich neben Louise Butler zu Boden gleiten. Sie ist etwa vierzig und bemerkenswert attraktiv. Sie besitzt die gleiche milchschokoladenfarbene Haut wie Pearlie. Sie betrachtet mich misstrauisch aus großen Augen.
»Wenn Sie hier stehen bleiben und quatschen, müssen Sie allein zu Ihrem Wagen zurück. Ich muss weiter.«
»Ich weiß, wo mein Wagen steht. Ich finde den Weg, danke sehr.«
Jesse gibt seinem Pferd die Sporen und lässt uns in einer kleinen Staubwolke stehen.
Ich sehe Louise an und warte schweigend auf eine Erklärung für ihr plötzliches Auftauchen, doch sie starrt nur in den Himmel.
»Es fängt bald an zu regnen«, beobachtet sie. »Ich hab ein Haus am See. Wir setzen uns besser in Bewegung, damit wir trocken hinkommen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht sie ihr Fahrrad um und schiebt es die Straße entlang. Ich blicke ihr ein paar Sekunden hinterher, bemerke ihr einteiliges Kleid und ihre Turnschuhe von Keds. Dann trotte ich los und geselle mich neben sie. Der Kies knirscht beim Laufen laut unter meinen Füßen.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«, frage ich.
»Henry hat es mir erzählt«, antwortet sie, ohne mich anzusehen.
»Also kannten Sie meinen Vater?«
Jetzt wendet sie sich mir zu und sieht mich an. »Es wird Ihnen vielleicht nicht gefallen, was ich Ihnen zu sagen habe, Miss Catherine.«
»Bitte nennen Sie mich Cat.«
Sie lacht leise auf. »Kitty Cat.«
Mich durchfährt ein Frösteln. Mein Vater hat mich Kitty Cat genannt, als ich noch sehr klein war. Er war der Einzige, der mich so genannt hat. »Sie kannten ihn. Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«
»Ich möchte nicht, dass Sie sich hinterher schlecht fühlen, Honey.«
»Ich fühle mich bestimmt nicht schlechter, als es heute ohnehin der Fall ist.«
»Seien Sie da nicht so sicher. Hat Jesse Ihnen irgendwas Schlechtes über Luke erzählt?«
»Nein, eigentlich nicht. Vielleicht hätte er das noch, aber dann kamen Sie vorbei.«
Louise rümpft die Nase. »Man kann Jesse nicht trauen. Nicht, wenn es um Luke geht.«
»Ich dachte, sie wären Freunde?«
»Das waren sie auch … für eine Weile.«
»Was ist passiert?«
»Ich.«
»Wie?«
Sie blickt mich aus den Augenwinkeln an. »Darling, Luke war sieben Jahre lang mein Liebhaber. Von 1974 an bis zu der Nacht, in der er starb. Und das hat vielen Leuten nicht gefallen.«
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Diese Frau kann nicht mehr als zehn Jahre älter sein als ich – und sie erzählt mir, dass sie die Geliebte meines Vaters gewesen sein will?
Louis geht weiter, und mir wird plötzlich bewusst, dass ich nicht mehr bei ihr bin. Sie bleibt stehen und dreht sich um. »Ich will Ihre Gefühle nicht verletzen. Ich wollte nur mit Ihnen reden. Sehen, ob ich ihn in Ihnen wiederfinde.«
»Und?«
Sie lächelt traurig. »Er sieht mich aus Ihren Augen an, jetzt in diesem Moment. Jeder Ihrer Gesichtszüge erinnert mich an ihn.«
»Louise, was …«
Bevor ich meinen Satz beenden kann, brechen die Wolken auf. Dicke Regentropfen klatschen auf den gelben Staub am Wegesrand und bilden dunkle Kreise aus Schlamm. Die Kreise vervielfältigen sich zu schnell, um ihnen mit dem Auge zu folgen, und dann rennen Louise und ich den Weg entlang wie kleine Mädchen. Zuerst schiebt sie ihr Fahrrad noch; dann aber springt sie auf und fährt neben mir her.
»Sie sind gut in Form!«, ruft sie mir zu, als die Hütten des kleinen Dorfes in Sicht kommen. »Es ist nicht weit bis zu meinem Haus, aber wir müssen noch ein Stück weiter als bis zu diesen Hütten dort.«
Wir jagen an den Hütten vorbei, deren Veranden jetzt leersind, und biegen in einen Trampelpfad ein, der am Seeufer entlangführt.
»Da ist es!«, ruft Louise.
Ich halte die Hand über die Augen, um sie vor dem Regen abzuschirmen. Ein Stück vor mir sehe ich eine Hütte, die nicht grau ist wie die anderen, sondern hellblau wie in der Karibik. Jetzt, da ich
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