Bisswunden
Kindheit. Ich habe diese Reise schon viele Male angetreten, ohne sie jemals zu beenden. Heute Nacht aber …
Zuhause, sage ich lautlos. Der Ort, wo du immer eingelassen wirst, wenn du dort auftauchst. Ich kann mich nicht erinnern, wer das gesagt hat, doch es erschien mir stets passend. Auch wenn es eigentlich nicht der Fall war. Meine Familie hat mich stets angefleht, sie zu besuchen. Meine Mutter möchte allen Ernstes, dass ich wieder in das Haus einziehe, in dem ich aufgewachsen bin. (Haus ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Es ist ein riesiges Anwesen, groß genug für mich und wenigstens zwölf weitere Familien.) Ich könnte nie wieder dort einziehen. Ich kann nicht einmal zurück nach Natchez. Warum nicht, weiß ich nicht. Es ist eine wunderschöne Stadt, in mancher Hinsicht viel schöner als New Orleans. Sicherer und friedlicher auf jeden Fall. Und viele sind nach Natchez zurückgegangen, die der Stadt im Lauf der Jahre den Rücken gekehrt hatten.
Nicht jedoch ich.
Man verlässt eine Stadt in jungen Jahren und weiß eigentlich gar nicht so recht, warum, nur, dass man wegmuss. Ich hatte die Highschool mit sechzehn abgeschlossen und bin weggegangen, um das College zu besuchen. Ich habe nie zurückgeblickt. Die ein oder zwei interessanten Jungs, die ich kannte, wollten genauso dringend aus Natchez fort wie ich, und sie haben genau wie ich alles hinter sich gelassen. Ich fuhr zu Thanksgiving und zu Weihnachten nach Hause, zwischendurchaber kaum einmal, und das hat meine Familie tief verletzt. Sie hat es nie verstanden, und sie hat es mich nie vergessen lassen. Zurückblickend über einen Abstand von fünfzehn Jahren denke ich, dass ich von zu Hause geflohen bin, weil Cat Ferry nur an einem anderen Ort – an irgendeinem anderen Ort – zu dem werden konnte, was ich aus ihr zu machen imstande war. In Natchez hätte ich eine erstickende Matrix aus Erwartungen und Verpflichtungen geerbt, die zu übernehmen mir unerträglich erschienen war.
Doch jetzt habe ich mein sorgfältig konstruiertes Refugium gründlich zerstört. Es war natürlich unausweichlich. Ich wurde von den Besten gewarnt. Wie vorhergesagt, sind meine Sorgen hier und heute um ein Vielfaches größer als das, was ich zurückgelassen habe, und meine Möglichkeiten sind bis auf eine erschöpft. Für einen Moment überlege ich, in mein Haus zurückzukehren und eine Tasche zu packen. Doch wenn ich das tue, werde ich niemals weggehen. Die Schwangerschaftsszene mit Sean wird stattfinden, und dann … vielleicht das Ende für uns. Oder vielleicht nur für mich. Ich werde also heute Nacht nicht die Treppe zu meiner Tür hinaufsteigen.
Mein Mobiltelefon summt »Sunday, Bloody Sunday«. Ich blicke auf das Display. Det. Sean Regan steht dort zu lesen. Ich bin versucht zu antworten, doch Sean ruft nicht wegen des Falles an. Er will mich sehen. Mich ausfragen wegen meiner »Episode« in der Prytania Avenue. Er will mit mir durchkauen, was Captain Piazza über uns und unsere Affäre weiß oder nicht weiß. Und Luft ablassen nach dem Ärger bei der nomurs-Sonderkommission.
Mit anderen Worten, er will Sex.
Ich schalte das Mobiltelefon auf Lautlos und steuere die Auffahrt hinauf, um mich in den nächtlichen Verkehr aus der Stadt hinaus einzufädeln.
4
I m Süden ist man niemals weit von der Wildnis entfernt. Nach weniger als zehn Minuten verlässt die I-10 Terra firma und verläuft durch einen stinkenden Sumpf voller Alligatoren, Grubenottern, wilder Schweine und Raubkatzen. Die ganze Nacht schleichen sie umher, schlagen Beute und vollziehen das Ritual des Todes, das ihr eigenes Leben erhält. Jäger und Beute, ein ewiger Tanz. Was davon bin ich? Sean würde sagen Jäger, und damit läge er nicht falsch. Doch er hätte auch nicht ganz Recht. Ich war auch schon mal Beute. Ich trage Narben, die Sean niemals gesehen hat. Heute bin ich weder das eine noch das andere, sondern ein Hybridwesen, das sich im Bewusstsein sowohl des Jägers als auch des Gejagten auskennt. Ich jage Raubtiere, um die gefährdetste Spezies von allen zu schützen – die Unschuldigen.
Vielleicht ein naiver Begriff heutzutage.
Die Unschuldigen.
Niemand, der heutzutage bei geistiger Gesundheit das Erwachsenenalter erreicht, ist unschuldig. Trotzdem verdient keiner von uns, ein Opfer der wahrhaft Verdammten zu werden. Die älteren Männer, die in New Orleans gestorben sind, haben irgendetwas getan, das ihren Mörder angezogen hat. Vielleicht irgendetwas Unschuldiges – vielleicht
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