Bisswunden
Situation auch nach Hannahs Einschätzung eine Krise darstellt, bringe ich es nicht über mich, sie anzurufen.
Während der stinkende, flache Sumpf allmählichhügeligen Wäldern voller Eichen und Nadelhölzer weicht, spüre ich in der Dunkelheit draußen jenen mächtigen Fluss zu meiner Linken, der ungeachtet aller menschlichen Wehen und Plagen seit Millennien nach Süden fließt. Der Mississippi verbindet die Stadt meiner Geburt mit der Stadt meines Erwachsenenlebens, eine große, gewundene Arterie, welche die beiden spirituellen Pole meiner Existenz verknüpft, die Zeit der Kindheit und die der Unabhängigkeit. Doch wie unabhängig bin ich tatsächlich? Natchez – die Stadt stromaufwärts, zwei Jahre älter als New Orleans, 1716 kontra 1718 – ist die Quelle all dessen, was ich bin, ob es mir nun gefällt oder nicht. Und heute Nacht kehrt die verlorene Tochter mit fünfundachtzig Meilen in der Stunde nach Hause zurück.
Nach vorn und nach hinten …
Während ich durch die Kurven in den dunklen Wäldern jage, spüre ich, wie eine Art emotionaler Gravitation an meinen Knochen zerrt. Doch erst als das Schild mit der Aufschrift angola penitentiary im Licht meiner Scheinwerfer aufleuchtet, wird mir der Grund dafür bewusst. Erst da weiß ich es. Unmittelbar südlich der von Nato-Draht umschlossenen Felder, die als Angola Farm bekannt sind, erhebt sich eine große Insel aus dem Fluss. Seit der Zeit vor dem Bürgerkrieg im Besitz meiner Familie, schwebt diese atavistische Welt wie eine dunkle Fata Morgana zwischen den vornehmen Städten Natchez und New Orleans. Ich habe seit mehr als zehn Jahren keinen Fuß mehr auf DeSalle Island gesetzt, doch ich spüre die Insel jetzt, wie man ein gefährliches Tier spürt, das aus dem Schlaf erwacht. Nicht mehr als ein Dutzend Meilen zu meiner Linken schnüffelt es in der feuchten Dunkelheit nach meinem Geruch.
Ich trete das Gaspedal durch und lasse die Gegend hinter mir, während ich in eine Art Trance falle, die mich den Rest meiner Fahrt im Griff hält. Ich erwache nicht in den Außenbezirken von Natchez, sondern auf dem geschwungenen, kurvigen, von hohen Böschungen umgebenen Weg, der durch dieWälder zum Zuhause meiner Kindheit führt. Früher einmal war das aus der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg stammende Anwesen, auf dem ich aufgewachsen bin, von mehr als achtzig Hektar ursprünglicher Wälder umgeben, doch davon sind nur noch landschaftlich gestaltete zehn Prozent geblieben. Das Land wird umschlossen vom St. Catherine’s Hospital, einem neuen Wohnviertel, sowie Elms Court, einer stattlichen alten Plantage. Trotzdem vermittelt die Fahrt durch den Tunnel aus Eichen, deren Blätterdach die Straße überdeckt, einem Touristen auch heute noch das Gefühl, sich einem abgelegenen europäischen Herrenhaus zu nähern.
Ein hohes, schmiedeeisernes Tor versperrt die letzten fünfzig Meter der Zufahrt, doch es war unverschlossen, solange ich mich zurückerinnern kann. Ich halte an und drücke auf einen Knopf am Torpfosten. Das Eisengitter schwingt wie von unsichtbaren Händen gezogen zurück. Als hätten die Götter persönlich meinen Weg nach Hause freigegeben.
Warum bist du hier?, frage ich mich.
Du kennst den Grund, antwortet eine tadelnde Stimme. Du hast keinen anderen Ort mehr, an den du noch gehen könntest.
Nachdem ich eine Valium trocken heruntergeschluckt habe, fahre ich langsam durch das Tor.
Hinter mir gleiten die Flügel wieder nach vorn und schließen sich mit einem lauten Klang.
5
V or mir liegt eine weite Lichtung im Mondlicht. Mir bietet sich ein Anblick, der den meisten Leuten den Atem raubt. Ein französisches Schloss erhebt sich aus dem Nebel wie ein Gespenst, die Kalksteinmauern weiß wie Haut, die Fenster wie schwarze Augen, glasig vor Müdigkeit oder vom Alkohol. DerMaßstab der Anlage ist heroisch und erweckt den Eindruck unbegrenzter Macht und unermesslichen Reichtums. Durch das Prisma des modernen Auges betrachtet, entbehrt das Schloss nicht einer gewissen Absurdität. Ein Palast aus der französischen Kaiserzeit in einer Mississippi-Stadt mit kaum zwanzigtausend Einwohnern? Nun, in Natchez gibt es mehr als achtzig solcher Anwesen, viele davon Herrenhäuser, und die Herkunft dieses Schlosses hier passt perfekt zur Stadt, ein lebender Anachronismus, von gewaltigem Überfluss kündend und zum größten Teil von Sklavenhand erbaut.
Meine Familie traf 1820 in Amerika ein – in Gestalt des jüngsten Sohnes eines Pariser Finanziers, ausgesandt
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