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Bisswunden

Bisswunden

Titel: Bisswunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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in der Dunkelheit kaum erkennen. »Ich möchte das nicht«, sagt er. »Okay? Das ist nicht die Art und Weise, wie so etwas passieren sollte. Du weißt es vielleicht nicht, aber du musst das lernen. Und jetzt schlaf. Wir reden morgen früh miteinander.«
    Ich glaube zu wissen, wie er mich jetzt ansieht. Vermutlich sollte ich verlegen sein, doch das bin ich nicht. Wahrscheinlich sollte ich auch so etwas wie Bedauern empfinden, doch auch das spüre ich nicht. Hier liege ich, geschwängert von einem verheirateten Mann, und schlafe neben dem ersten netten Jungen, der mir seit langer Zeit über den Weg gelaufen ist.
    Und ich empfinde überhaupt nichts.
    Wenn man wieder und wieder den gleichen Traum träumt, fängt man nach einer Weile an, sich zu fragen, ob es möglicherweise eine göttliche Strafe ist, wieder und wieder im gleichen Körper reinkarniert zu werden, außerstande, sich auf eine höhere Wesensebene zu schwingen, bis man endlich dieschwer fassbare Lektion aus seinen Sünden gelernt hat. Wie ein Hindu.
    Ich bin wieder in dem rostigen Pick-up, und mein Großvater sitzt hinter dem Lenkrad. Wir fahren durch das sanft geschwungene Weideland den Hügel hinauf. Ich hasse den Gestank im Innern des Trucks. Manchmal weht eine Brise vom Fluss heran und vertreibt den Gestank, doch heute hängt die Luft tot und reglos über der Insel, als wäre sie gefangen unter einer Glocke stahlgrauer Wolken. Mein Großvater knirscht mit den Zähnen, während er fährt. Er hat kein Wort gesprochen, seit wir das Haus verlassen haben. Es ist, als wäre ich überhaupt nicht hier. Doch ich bin hier. Und bald werden wir den Kamm des Hügels erreicht und überquert haben, und dann wird der Teich auf der anderen Seite in Sicht kommen.
    Ich will den Teich nicht sehen. Ich will nicht sehen, wie mein Vater über das Wasser geht wie Jesus, während er sich das Kugelloch in der Brust aufreißt. Ich weiß bereits, was er mir zu sagen versucht. Ich weiß bereits, dass ich es war, die ihn erschossen hat. Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Wenn ich mich bei ihm entschuldigen könnte, gäbe es vielleicht einen Grund für diesen Traum. Aber das kann ich nicht. Ich kann nicht reden, überhaupt nicht.
    »Verdammter Regen!«, murmelt Großvater.
    Er schaltet herunter und tritt auf das Gas, und wir rumpeln über den Kamm. Die Kühe erwarten uns, wie sie es immer tun, die Augen glasig und gleichgültig. Hinter ihnen liegt der Teich, ein makelloser silberner Spiegel, der nichts außer Himmel reflektiert. Zu meiner Rechten steigt der Preisbulle auf die Kuh und beginnt mit seinen Stößen.
    Großvater lächelt.
    Ich fürchte mich vor dem Anblick meines Vaters im Teich und schlage die Hände vor die Augen. Doch früher oder später muss ich hinsehen. Ich spähe zwischen den Fingern hindurch und wappne mich gegen das Entsetzen, das auf mich zukommt.
    Doch es kommt nicht. Heute ist der Teich leer. Mein Vater treibt nicht auf der Oberfläche mit ausgebreiteten Armen wie ein ans Kreuz geschlagener Mann.
    Der vollkommene Spiegel bleibt vollkommen.
    Großvater bremst, als wir auf den Teich zurollen, und zwanzig Meter vom Ufer entfernt hält er an. Ich rieche Verwesung, verrottende Pflanzen und Fisch. Wo ist mein Vater? Was ist mit meinem Traum passiert? Selbst etwas Schreckliches ist tröstlicher als das Ungewisse. Ich wende mich Großvater zu, um eine Frage zu stellen, doch ich weiß die Frage nicht. Ich könnte sie sowieso nicht stellen. Angst umklammert mein Herz und jagt durch meinen Leib wie ein gefangenes Tier, das einen Ausweg aus der Falle sucht.
    Ein neuer Geruch durchschneidet den fauligen Gestank des Tümpels. Es ist ein künstlicher Geruch. Der Geruch von Großvaters Haar-Tonikum. Lucky Tiger.
    »Verdammter Regen«, sagt er erneut.
    Ich starre durch die Windschutzscheibe, und ein Vorhang aus Regen legt sich über meine Sicht wie ein großer grauer Schatten, und die Blätter erzittern unter seinem Gewicht. Innerhalb von Sekunden kocht die glasige Oberfläche des Tümpels wie Wasser in einer heißen Kasserolle. Pearlie hat einmal zu mir gesagt, dass ein Mensch wie ein Regentropfen ist, herabgeschickt vom Himmel mit dem einzigen Schicksal, sich am Ende seiner Reise mit all den anderen Tropfen zu vereinigen. Ich kann mich nicht an den Himmel erinnern, also muss ich ihn schon vor langer Zeit verlassen haben … und doch bleibt noch so ein langer Fall, bis ich am Boden angekommen bin.
    »Also gut, da wären wir«, sagt Großvater.
    Er greift zu mir herüber,

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