Bisswunden
Michael.
»Ich war acht Jahre alt. Kann ich wirklich meinen Vater erschossen haben?«
Michael stößt einen zutiefst traurigen Seufzer aus. »Als ich wieder hierher zurück gezogen bin, nach Natchez, war gerade Herbst. Und eins der ersten Dinge, die mir aufgefallen sind, waren die vielen Bilder in den Zeitungen von Sieben- und Achtjährigen, die ihren ersten Hirsch geschossen hatten.«
Ich schließe in tiefer Verzweiflung die Augen.
»Ich habe gestern über die Möglichkeit nachgedacht«, sagt Michael. »Ich habe dir gesagt, falls es dein Vater war, der dich missbraucht hat, war es vielleicht Pearlie oder deine Mutter, die ihn erschossen hat. Aber du hättest es natürlich auch selbst sein können. Vatermord ist auf jeden Fall das überzeugendste Motiv dafür, dass du dich ein Jahr lang in Schweigen zurückgezogen hast.«
Was mache ich hier?, frage ich mich. Ich stehe im Hauseines Mannes, den ich kaum kenne, und zittere am ganzen Leib wie eine Epileptikerin.
»Wenn es das ist, was sich zugetragen hat«, fährt Michael fort, »wenn du deinen Vater erschossen hast, dann war es eindeutig ein Akt der Notwehr. Wenn ein achtjähriges Mädchen bis zu einem Punkt getrieben wird, an dem es den eigenen Vater erschießt, dann wird niemand auf der Welt die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens infrage stellen.«
Ich höre Michaels Worte, doch sie dringen nicht bis zu meinem Verstand vor. Worte können die verwundete Region meiner Seele nicht erreichen. Er scheint dies zu spüren. Einen Arm um mich gelegt, führt er mich zu seinem Schlafzimmer, schlägt die Decke zurück und setzt mich auf die Bettkante. Er kniet nieder und zieht mir die Schuhe aus; dann drückt er mich aufs Bett nieder und zieht mir die Decke bis zum Kinn.
»Beweg dich nicht von der Stelle. Ich bin gleich wieder bei dir.«
Er verschwindet, und ich bleibe in der kühlen, trockenen Dunkelheit seines klimatisierten Schlafzimmers zurück. Ich fühle mich eigenartig zu Hause hier. In diesem Zimmer haben Mr. und Mrs. Hemmeter mehr als dreißig Jahre lang geschlafen. Sie haben mich geliebt wie eine eigene Tochter, und irgendetwas von ihrem Geist scheint sich in diesem Zimmer gehalten zu haben.
Mit einem Glas Wasser in der Hand taucht Michael wieder neben dem Bett auf.
»Das ist eine Lorcet Plus. Nimm sie, sie dämpft den Schmerz ein wenig.«
Ich nehme die weiße Tablette und stecke sie mir in den Mund, doch als ich das Glas zum Trinken an die Lippen setze, wird mir bewusst, dass ich im Begriff stehe, einen schrecklichen Fehler zu machen. Ich spucke die Tablette in meine Hand und lege sie auf den Nachttisch.
»Was ist denn?«, fragt Michael.
»Ich kann sie nicht nehmen.«
»Bist du allergisch gegen Hydrocodon?«
Ich blicke in seine besorgten Augen und wünschte, ich müsste ihm nicht die Wahrheit sagen. Warum hat er all das für mich getan? Er hat sein ganzes Leben über den Haufen geworfen, um mir zu helfen. Dafür muss es einen Grund geben. Doch ich darf ihn nicht länger belügen. Nicht einmal dadurch, dass ich etwas verschweige.
»Ich bin schwanger«, sage ich, ohne den Blick von seinen Augen zu nehmen.
Er zuckt nicht zusammen, wie meine Mutter es tat, als ich die Geliebte meines Vaters erwähnte, doch irgendetwas hinter seinen Augen ändert sich. Die Wärme weicht allmählich einem kühlen, misstrauischen Ausdruck.
»Wer ist der Vater? Der verheiratete Detective?«
»Ja.«
Er starrt mich einige Sekunden lang schweigend an. »Ich schätze, ich mache dir wohl besser einen Tee«, sagt er schließlich verlegen. »Koffeinfreien Tee.« Er wendet sich ab und geht rasch zur Tür.
»Michael! Warte!«
Er bleibt stehen und dreht sich um, das Gesicht bleich, der Blick verwirrt.
»Ich habe das nicht so gewollt«, sage ich zu ihm. »Es war nicht geplant oder so was. Aber ich werde es nicht abtreiben. Ich hätte es dir schon früher erzählen sollen, schätze ich, aber es war mir so peinlich, ich war so verlegen … Ich wollte nicht, dass du schlecht von mir denkst. Aber jetzt … nach allem anderen, was du bereits weißt, wäre es absurd, das vor dir zu verbergen.« Meine nächsten Worte verlangen mir mehr Mut ab als das Schwimmen mitten im Mississippi. »Wenn du möchtest, dass ich jetzt gehe, kann ich das verstehen.«
Er starrt mich nur an, und sein Gesichtsausdruck verrät nichts über seine Gefühle.
»Ich hole den Tee«, sagt er schließlich.
Ich bekomme keinen Tee. Ich nehme auch die Lorcet nicht. Die Erschöpfung übermannt mich und gibt mir
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