Bisswunden
Skulptur eines hängendenMannes, Fotos nackter Kinder und zwei schwarze Schatten, die in der Dunkelheit über mir miteinander kämpfen.
Und dann sehe ich nichts mehr.
53
I ch renne.
Schneller und angestrengter als je zuvor in meinem Leben. Baumstämme huschen an mir vorbei wie damals, wenn ich auf einem Pferd über die Insel gejagt bin, doch diesmal sind es nur meine Beine, die mich vorantreiben, und meine Füße, die vor etwas flüchten, das zu grauenhaft ist, um es zu ertragen.
Du willst wissen, wer deinen Vater umgebracht hat?
Nein! Ich will die Zeit zurückdrehen. Zurück zu den Tagen, bevor ich anfing, Fragen zu stellen – Fragen, von denen ich dachte, dass ich Antworten darauf wollte.
Jetzt weiß ich es besser.
Manche Dinge sollte man lieber nicht wissen. Pearlies Stimme.
Zwischen den Bäumen voraus taucht Michael Wells’ Haus auf. Der Anblick erweckt in mir ein eigenartiges Gefühl von Hoffnung – wie ein Dieb auf der Flucht sich beim Anblick einer Kirche fühlt, der einzigen Chance auf Zuflucht. Ich sprinte noch schneller, und bald darauf sehe ich das blaue Rechteck des Swimmingpools der Hemmeters. Doch die Hemmeters wohnen nicht mehr dort. Der Pool gehört – wie das Haus – Michael Wells. Zu viele Veränderungen …
Ich stolpere auf den betonierten Patio, der den Pool umgibt, während meine Blicke in die blaue Tiefe wandern. Ein Teil von mir will nichts weiter, als unter die Oberfläche, auf den Boden des Pools, und den Atem anhalten, während mein Herzschlag sich immer mehr verlangsamt, bis zwischen den einzelnenSchlägen eine Unendlichkeit liegt. Doch das wird nicht geschehen. Unter dem Mangel an Sauerstoff schlägt das Herz schneller und schneller, um das erstickende Gewebe zu versorgen, bis es schließlich nur noch nutzlos und panisch in der Brust pulsiert. Das ist der Augenblick, an dem ich zur Oberfläche zurückkehre. Nicht einmal ein Todeswunsch kann den Instinkt unterdrücken, der in Jahrmillionen gewachsen ist. Das erfordert Gewalt. Oder eine Methode, die keinen Rückweg zulässt. Wie intravenöses Morphium. Wahrscheinlich ist Ann so schnell in einen gesegneten Schlaf gesunken, dass sich jedes Bedauern ganz rasch in nichts aufgelöst hat. Obwohl ich bezweifle, dass sie umgekehrt wäre, selbst wenn sie gekonnt hätte.
Bei manchen Menschen wird der Schmerz, von Minute zu Minute weiterzuleben, irgendwann so akut, dass sie irgendwann imstande sind, dem Tod ins Auge zu sehen, ohne auch nur zu blinzeln – ja, ihn sogar als Freund empfinden –, und ohne sich umzusehen jenen Fluss zu überqueren, von dem Malik gesprochen hat. Für mich jedoch war Schmerz, obwohl ich bis zum schwarzen Rand des Selbstmords gekrochen bin, stets etwas, das ich dem Nichts vorgezogen habe.
Bis heute …
In Michaels Haus brennt Licht. Das allein zieht mich am Pool vorbei und zu den französischen Fenstern auf der Rückseite des Hauses. Plötzlich stehe ich vor dem Glas und hämmere dagegen, und nicht einmal der Schmerz, der bis hinauf in meine Ellbogen zieht, hält mich davon ab, im Gegenteil – er erinnert mich daran, dass ich noch am Leben bin. Ich sehe Bewegung hinter der Scheibe, und dann eilt Michael mit besorgtem Gesicht herbei. Bevor er etwas sagen kann, werfe ich die Arme um seinen Hals, stelle mich auf die Zehenspitzen und drücke ihn so fest an mich, wie ich kann.
»Hey, hey, was ist denn los?«, fragt er. »Was ist passiert? Hattest du Streit mit deiner Mutter?«
Ich will antworten, doch ich bin außer Atem, und meine Brust hebt und senkt sich in mächtigen Schluchzern, die micham ganzen Leib erzittern lassen. Ich habe meinen Vater umgebracht!, will ich schreien, doch kein Laut kommt über meine Lippen.
»Beruhige dich«, sagt Michael und streichelt mir über das Haar. »Was immer es sein mag, wir kommen damit zurecht.«
Ich schüttele heftig den Kopf und starre ihn durch einen Vorhang von Tränen an.
»Du musst mir erzählen, was passiert ist, Cat.«
Diesmal bildet mein Mund die Worte, doch erneut kommt kein Laut hervor. Schließlich schaffe ich es, stammelnd wie ein aufgelöstes Kind, ihm die Geschichte zu erzählen. Michaels Augen weiten sich für einen Moment, doch dann zieht er mich erneut an sich. »Dein Großvater hat dir das erzählt?«
Ich nicke an seiner Brust.
»Hat er dir Beweise geliefert?«
Ich schüttele den Kopf. »Aber ich spüre es … in dem Augenblick, in dem er es gesagt hat, habe ich gespürt, dass es endlich die Wahrheit war. Nur …«
»Was?«, fragt
Weitere Kostenlose Bücher